Vier Jahre lang hat der Schriftsteller, Verleger und Neu-Hamburger Marc Degens in Kanada gelebt. Seine Aufzeichnungen sind in „Toronto“, erschienen im mairisch Verlag, zu lesen
Interview: Ulrich Thiele
Viel passiert nicht, zumindest auf der Plot-Ebene. Degens berichtet in knappen Sätzen von Restaurant und Konzertbesuchen, Lesungen und entspannten Nachmittagen in Buchläden und Comicshops sowie von Reisen quer durchs Land. Zwischen den Zeilen passiert hingegen viel, denn diese charmante Zelebrierung des Lebens in einer offenen Gesellschaft macht glücklich und sehnsüchtig zugleich.
SZENE HAMBURG: Marc Degens, unter diesen Umständen stachelt „Toronto“ das Fernweh noch mehr an als ohnehin schon.
Marc Degens: Ich glaube, dass es ein Buch ist, mit dem man gut auf Reisen gehen kann, selbst wenn man zu Hause bleibt. Meine Hoffnung ist, dass es weniger ein Reiseführer ist, der anleitet, was man alles machen könnte. Sondern dass man mit dem Buch tatsächlich eine Reise erlebt.
Sie sind seit zwei Jahren wieder in Deutschland. Was vermissen Sie am meisten?
Wunderbare Autofahrten mit Blicken auf Seen und bisher unbekannte Landschaften. Gerade in der jetzigen Zeit, in der ich auf meine eigenen vier Wände zurückgezogen lebe, vermisse ich das ganz deutlich.
Sie waren vier Jahre in Kanada, das Erlebte lesen wir in Ihrem Buch in verdichteter Form. Manche Ihrer Einträge schildern mehrere Tage am Stück, dann gibt es immer wieder mal einen Sprung von mehreren Wochen oder Monaten. Wie haben Sie Ihre Tagebucheinträge für das Buch selektiert?
In Hinsicht auf eine Pointierung. Die Frage war, was der rote Faden ist und welche Geschichte ich erzählen wollte.
Und zwar?
Die Facetten, die dieses Land aus machen, und wie man sie erlebt, wenn sie für einen Neuland sind. Also wie gesagt: Auf der einen Seite die Naturerfahrung, die Weite und Schönheit dieses Landes.
Aber auf der anderen Seite auch die kanadische Mentalität in der Großstadt Toronto, die mich sehr berührt hat und die ich sehr einzigartig fand. Diese Herzlichkeit, Offenheit und Toleranz, die ich besonders in den Kulturveranstaltungen gespürt habe, und die Entspanntheit, die das Leben so angenehm macht.
In einer Szene schreiben Sie, wie Sie ein Bild auf Instagram als Erinnerung für Sie selbst veröffentlichen. „Dass andere das Foto auch sehen können ist allerdings ein schöner Nebeneffekt. Genauso verhält es sich mit dem Schreiben.“ Schreiben Sie also nur für Sie selbst?
Die Stelle bezieht sich auf mein Tagebuchschreiben. Dabei ist es tatsächlich so, dass es hauptsächlich einen Sinn für mich erfüllt. Indem ich auch ganz banale Dinge archiviere. Da ist auch der Bogen zu den sozialen Medien.
Instagram wird gern als ein Medium der Selbstdarstellung gesehen, um Likes zu sammeln. Ich glaube aber, dass ein wesentlicher Punkt des Postens wie beim Tagebuchschreiben das Archivieren für sich selbst ist. Und auf der Timeline kann man dieses Archiv dann immer wieder durchforsten.
Ich möchte aber nicht mein gesamtes Tagebuch veröffentlicht sehen. Das ist viel zu umfangreich und voller Banalitäten, die ich niemandem zumuten will. Deswegen die Selektion und Reduktion. Das ist dann der schriftstellerische Prozess: herauszufinden, was weggelassen werden kann.
Also das Kürzen als fast schon wichtigster schriftstellerischer Prozess?
Zumindest einer, der immer wichtiger wird. Oft, wenn ich gefragt werde, woran ich schreibe, kann ich antworten: Ich schreibe gar nicht mehr, ich bin nur noch am Streichen.
„„Toronto“ ist ein Buch über das Glück.“
Hat das Schreiben umgedreht auch Ihren Blick auf Kanada geprägt?
Ich würde erst einmal bestreiten, dass die schriftstellerische Wahrnehmung zu einem anderen Erleben führt. Persönliche Vorlieben spielen eher eine Rolle als der Beruf. Bei mir ist es das Visuelle: Meine Liebe zu Comics zum Beispiel.
Das passt zu Ihrer Trennung von Kunst und Leben. Das Leben sei wichtiger als die Kunst, schreiben Sie.
Damit richte ich mich gegen dieses Bild, das man in Deutschland oft pflegt: vom gequälten Künstler, der sein eigenes Leben vernachlässigt, um große Kunst zu schaffen. Über Glück zu schreiben ist schwer und es wird eher selten gemacht.
Es gibt einen Satz von Marcel Reich-Ranicki, der sinngemäß anmerkte, dass immer nur Romane über unglückliche Lieben geschrieben werden, aber nie über glückliche Ehen. Ich wollte etwas thematisieren, was ich in Kanada erfahren habe, nämlich ein großes Gefühl des Glücks und auch der Dankbarkeit. „Toronto“ ist ein Buch über das Glück.
Sie haben in Ihrem Verlag SUKULTUR eine Reihe für Autofiktionen gestartet. Ist „Toronto“ auch Autofiktion?
Das Tagebuch ist ja ein klassisch autobiografisches Format, das es schon gab, bevor es die Autofiktion gab. Autofiktion hat immer auch den Aspekt, dass sich zu dem autobiografischen Geschehen eine literarische Fiktion hinzugesellt. In „Toronto“ gibt es nur wenige Stellen, die in Richtung Fiktion gehen, etwa wenn Erinnerungen aufkommen und diese sich zu einer Geschichte entwickeln.
Der Begriff ist also literaturwissenschaftlich unscharf, aber wir wissen, was damit gemeint ist: Eine Form des autobiografisch verbürgten Schreibens, die im Gegensatz zum rein Fiktiven steht. Insofern ist „Toronto“ auch Autofiktion.
Warum ist autobiografisch gefärbtes Erzählen derzeit so populär?
Weil traditionelle Literaturgattungen wie der Roman ein bisschen in die Krise geraten sind. Heute wird sich weniger darüber ausgetauscht, welche Romane man gelesen hat, sondern welche Fernsehserien man gesehen hat.
Der Roman ist nicht tot, aber er hat mehr Konkurrenz, weil das epische Erzählen durch die veränderte Medienlandschaft andere Ausformungen bekommen hat. Dadurch sind andere literarische Formen im Aufwind, zum Beispiel kleine Beobachtungen in kurzen, pointierten Formen.
„In Hamburg ist das Fernweh am geringsten“
In Interviews mit berühmten Schriftstellern entsteht oft der Eindruck, dass sie über das Autobiografische als Stilmittel nicht reden wollen, weil sie die Frage danach als kränkende Nicht-Anerkennung ihrer Fantasiefähigkeit sehen. Teilen Sie den Eindruck?
Ich habe vor einigen Monaten das Buch „Das Tagebuch und der moderne Autor“ aus den 1960er Jahren gelesen. Darin melden sich Schriftstellergrößen wie Arno Schmidt, Heinrich Böll und Elias Canetti zu Wort und man merkt noch deutlich ihre Reserviertheit gegenüber diesem Medium. Arno Schmidt etwa hat das Tagebuch-Schreiben als literarische Kunstform komplett abgelehnt.
In den Ablehnungen schwingt oft auch noch diese alte Genieästhetik mit. Also die Annahme, dass das Genie von der Muse befeuert wird und dabei Kunst herauskommt, die schon immer da war und nur freigelegt werden müsse. Das ist ein recht überholter Gedanke.
Viele Texte beschreiben heute, unter welchen Schwierigkeiten und von welchen gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst Kunst hergestellt wird. Kunst als etwas vom Menschen und nicht vom Genie Gemachtes zu sehen, ist in meinen Augen aber die zeitgemäßere und richtige Lesart.
„Die kanadische Freundlichkeit und das permanente Entschuldigen haben mich für das Leben in Berlin unbrauchbar gemacht“, schreiben Sie an einer Stelle. Sie leben seit letztem Jahr nicht mehr in Berlin, sondern in Hamburg. Was hat Sie hergezogen?
Tatsächlich war Hamburg seit Jahrzehnten ein Sehnsuchtsort für mich, obwohl ich nur selten hier war. Aber die Erfahrungen, die ich hier gemacht habe, waren immer außergewöhnlich.
Hamburg hat eine reiche und diverse Kunst und Kulturszene, und es herrscht eine Freundlichkeit in der Stadt, die mich sogar an Toronto erinnert. Ich dachte, wenn schon zurück nach Deutschland, dann ist Hamburg die ideale Stadt. Das Fernweh ist hier am geringsten. Ich befürchte aber, dass ich merken werde, wie sehr mir die weiten kanadischen Landschaften fehlen, wenn ich Ausflüge ins Umland mache.
Was ist das Schönste an der Rastlosigkeit?
(überlegt) Dass sie nicht zu Ende geht.
Marc Degens: „Toronto“, mairisch, 144 Seiten, 12 Euro
SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Juni 2020. Das Magazin ist seit dem 30. Mai 2020 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!