In einem Keller in St. Georg befindet sich ein filmhistorischer Schatz in Form von 35mm- und 16mm-Kopien. Thomas Pfeiffer vom Metropolis Kino hegt und pflegt die Filmrollen seit knapp 30 Jahren
Text: Marco Arellano Gomes
Es gibt Menschen, die können mit ihrem Wissen ganze Archive füllen. Thomas Pfeiffer ist ein solcher Mensch. Seit 30 Jahren hütet er das Filmarchiv der Kinemathek Hamburg, versteckt in einer Seitenstraße, mitten im quirligen St. Georg. Lediglich ein Klingelschild weist darauf hin, dass sich hinter einer gläsernen Tür, im Untergeschoss, das Archiv des Metropolis Kinos befindet. „Kinemathek Hamburg e. V.“ steht drauf.
Als Pfeiffer als Archivar begann, stand dort bloß ein M für Metropolis. „Damals sollte niemand wissen, dass sich hier Filmkopien befinden“, so Pfeiffer. Heute sehe er das nicht mehr so eng: „Kaum jemand verfügt heute überhaupt noch über das Equipment, um die Filme abzuspielen.“ Wertvoll sind die Filme noch immer, wenngleich aus nostalgischen Gründen. Cineasten schätzen und lieben das echte Filmerlebnis. Nichts kommt dem originalen Kinofeeling näher als historische Filmkopien – und davon gibt es im Archiv der Kinemathek jede Menge.
Wer die Treppen hinuntersteigt, steht zunächst direkt in einer Küche. Eine holzvertäfelte Schiebetür führt zu einem Vorraum, in dem sich mehrere Arbeitstische, Regale, Filmkartons, Filmrollen und Spezialreiniger befinden. Gebogene Tischlampen hängen über den Schneidetischen der Hamburger Marke Steenbeck, mit ihren charakteristischen blauen Arbeitsflächen.
Bilderrahmen mit Filmstars wie Shirley MacLaine, Jean Simmons, Audrey Hepburn, Montgomery Clift, Cary Grant und Gregory Peck zieren die Wand. Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein Kasten mit Karteikarten. Darin sind alle Filme auf gelben DIN-A5-Karten notiert, erklärt Pfeiffer. Filmtitel, Filmformat, Regisseur, Archiv-Nr., Fassung, Land, Jahr, Bildseitenverhältnis, Ton, Akte, Länge, Material, Prüfungsdatum, Prüfer, Zustand – alles wird erfasst und penibel aufgelistet.
Der Hüter des Filmarchivs
Thomas Pfeiffer trägt Brille, schwarzen Rollpulli, dunkelblaue Jeans und kurze, grau melierte Haare. Optisch erinnert er ein wenig an den legendären Apple-Gründer Steve Jobs. Auch Pfeiffer ist technikbegeistert, perfektionistisch und ein guter Redner. Zum Metropolis stieß er 1989 als Filmvorführer, als Student der Elektrotechnik. Die Aufgabe, das Archiv zu hüten, folgte knapp zwei Jahre später. „1991 wurde die Stelle im Archiv frei“, erinnert er sich. „In versammelter Runde wurde gefragt, wer die Stelle übernehmen mag. Keiner meldete sich, aber alle Augen fielen auf mich.“ Pfeiffer nahm sich der Aufgabe an.
Das Archiv umfasste damals etwa 2000 Kopien. Seither gelang es Pfeiffer und seinen Kollegen und Kolleginnen, den Bestand auf das Dreifache zu erhöhen. Mittlerweile liegen hier 5900 Filme, in 35mm und in 16mm. Der kürzeste Film ist eine Minute lang, der längste umfasst 250 Minuten. Alle Filmrollen sind einzeln verpackt, gestapelt, beschriftet und katalogisiert. Sie liegen in metallenen Regalen, die etwa sieben Meter quer durch den Raum verlaufen, den gesamten Kellerraum durchziehen und durch drei Gänge erreichbar sind. „Das ist schon ziemlich umfangreich“, sagt Pfeiffer.
In Hamburg sind nur noch das Metropolis, das B-Movie, das Lichtmess und das Savoy (70mm) in der Lage, Filmrollen abzuspielen. „Angeblich haben das 3001 und das Alabama auch noch Projektoren. Aber einen Projektor haben und einen benutzen, sind zwei Paar Schuhe. Vorführen braucht Routine – und die geht wahnsinnig schnell verloren.“ Pfeiffer führt im Metropolis noch immer selbst vor. Er brauche die Praxis und das Gefühl, mit dem Film verbunden zu sein. Immer wieder präpariert er Filmklassiker aus dem eigenen Archiv – für das eigene Programm, aber auch wenn andere Kinos und Filmfeste sich einen Film leihen wollen.
Eine Frage der Rechte
„Moment!“, korrigiert er sich selbst. „Filme werden nicht verliehen, sie werden zur Nutzung zur Verfügung gestellt“. Das sei ein wichtiger Unterschied. „Filme verleihen“ könne man nur, wenn man die „Rechte am Film besitzt“. Dies sei bei der Sammlung der Kinemathek aber so gut wie nie der Fall. „Jeder, der unsere Filme abspielen möchte, muss also vorab die Rechte dafür einholen“, so Pfeiffer.
Auch das Metropolis klärt, ehe es sich im eigenen Archiv bedient, die Rechte vorher ab. Und das ist manchmal gar nicht so einfach. In der Regel wenden sich die Kinos hierzu an Park Circus, einen internationalen Händler, der für 25.000 Titel die Rechte mit den Studios – von MGM, Warner Bros., Universal über Paramount, Sony Pictures bis hin zu Walt Disney und vielen mittelgroßen Studios abwickelt. Die Major-Studios seien längst dazu übergegangen, die Abwicklung auszusourcen.„Warner ist einer der letzten Verleiher, der noch analoge Kopien zur Verfügung stellt“, erklärt Metropolis-Kurator Nils Daniel Peiler, der gerade zu seinem wöchentlichen Besuch im Archiv ist. Für ihn sei dies „das Highlight der Woche“, weil er direkt am Material arbeiten könne: „Ich greife immer gern einen Film aus den Regalen und lasse mich überraschen.“
Das Filmmaterial …
Thomas Pfeiffer öffnet eine metallene Tür, auf der ein Filmplakat von „Frühstück bei Tiffany“ hängt. Direkt dahinter lagern kühl und trocken die Filme und warten darauf, entdeckt zu werden. „Zwei Drittel der Filme bestehen aus Triacetat, ein Drittel aus Polyester“, erklärt Pfeiffer. Nitrofilm, besser bekannt als Zelluloid, gäbe es hier nicht, da dieses aufgrund der hohen Entflammbarkeit nicht gelagert werden darf. „Das Zeug ist hochgefährlich, weil es nicht löschbar ist!“ Seit dem Sicherheitsfilmgesetz von 1957 dürfe Nitrofilm nicht mehr eingesetzt werden. Zunächst wurde es durch Triacetat, später in den 90ern durch Polyester ersetzt. Beide Materialien seien wesentlich schwerer zu entflammen und vor allem auch löschbar. Letzteres sei zudem extrem robust und könne recycelt werden.
Pfeiffer holt zwei kurze Streifen Film und fordert zum Reißen auf: Der erste Streifen aus Triacetat zischt und ist direkt kaputt, der zweite Streifen aus Polyester biegt sich, hält aber stand. „Mit Polyester-Film kann man ein Auto abschleppen“, erklärt Pfeiffer und schiebt einen Scholz’schen Satz hinterher: „Es reißt nicht, da es sehr sehr stabil ist.“ Verkratzen kann aber auch ein Polyester-Streifen: „Wenn ein erfahrener Filmvorführer am Werk ist, kann ein Film etwa 1000-mal gezeigt werden und man sieht so gut wie gar nichts. Wenn jemand keine Ahnung hat, reicht schon ein Durchlauf.“ Vor 30 Jahren sei er diesbezüglich entspannter gewesen: „Es gab damals zwar auch schwarze Schafe, aber grundsätzlich wussten alle, wie Filme vorgeführt werden. Heute fehlt vielen einfach die Erfahrung und Praxis.“
… und sein Zerfall
Kürzlich habe das Locarno Film Festival nach einem Film gefragt. Die Kinemathek Hamburg scheint die einzige verfügbare Kopie zu besitzen. „Das Material ist laut Katalogeintrag nicht mehr im einwandfreien Zustand, weshalb ich das noch prüfen muss“, sagt Pfeiffer. Der erste Schritt der Prüfung überrascht: Pfeiffer greift eine Filmdose, öffnet diese und hält seine Nase drüber. Zwei Dinge setzen Triacetat-Filmkopien zu: Der Zerfall der Farben, das sogenannte Fading, das wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß bei allen Trägermaterialien auftritt und durch eine optische Überprüfung am Schneidetisch ermittelt wird, und der chemische Zerfall, auch als „Essigsyndrom“ bekannt, der durch simples Riechen festgestellt wird.
Das Essigsyndrom ist ein großes Problem bei der Lagerung von Filmen: Die drei („Tri“) Essigsäuregruppen, aus dem die Filme bestehen, lösen sich mit der Zeit aus dem Molekülverband. Das Material riecht nach Essig, schrumpft, wird wellig und klebrig. Irgendwann ist der Film nicht mehr vorführbar: „Im Endzustand wird jeder Triacetat-Film zu einer schleimigen Masse“, sagt Pfeiffer. Stoppen könne man diesen Prozess nur durch Kühlung auf 17 Grad unter null. Das sei allerdings teuer, energieintensiv und wenig praktikabel.
Alle paar Monate fischt Pfeiffer eine Kopie heraus, die nach Essig riecht. Seine Nase ist geschult. Er rieche den Essig bereits beim Vorbeigehen. „Wir hatten hier eine Kopie von ‚Der gewöhnliche Faschismus‘. Die stank bestialisch.“ Am liebsten würde er Louis, den Hund einer Kollegin, darauf abrichten, die sauren Filme aufzuspüren, sagt er scherzhaft, „aber, ich befürchte, dass ich dann die Hälfte rausschmeißen müsste“.
Die Lagerbedingungen der Kinemathek seien mit knapp 19 Grad Celsius und 55 Prozent Luftfeuchtigkeit okay. „Ideal wäre eine konstante Temperatur um 15 bis 16 Grad Celsius und eine Luftfeuchtigkeit zwischen 40 und 50 Prozent“, sagt Pfeiffer. Degenerierende Filme werden umgehend isoliert, da sie andere befallen könnten. Eine gewisse Zeit lang könne man diese noch abspielen. Die Projektoren müssten danach allerdings aufwendig gereinigt werden, da es zu einem minimalen Abrieb kommen kann. Irgendwann hilft nichts mehr: Der Film kann dann nur noch vernichtet werden.
Der finale Test
Nach dem Schnuppertest erfolgt die mechanische Prüfung am Umroller: Pfeiffer greift eine Filmrolle und geht in den Vorraum zurück. Behutsam wickelt er den Film um die einzelnen Rollen und wirft den Motor an. Pfeiffer lässt den Film zwischen Daumen und Zeigefinger hindurchlaufen. So könne er am besten fühlen, ob es eine Einkerbung gebe, die den Film reißen lassen könnte. Im Anschluss lässt er den Film durch den Schneidetisch laufen.
Es brummt, rattert und knarzt. Während der Film über die Rollen rauscht, schaut er auf den mit Sichtschutz versehenen Monitor: „Ein sattes Schwarz zu Beginn ist immer ein gutes Zeichen“, sagt Pfeiffer. „Wenn alle Farben stimmen und der Ton vernehmbar ist, ist alles prima.“ Pfeiffer schaut sich stets den gesamten Film an. Gibt es Klebestellen oder Verschmutzungen komme ein Spezialreiniger zum Einsatz. Kratzer, Laufstellen und Verregnungen sowie Beeinträchtigungen der Farbe werden vermerkt.
Mag er nach über 30 Jahren noch immer gern Filme sehen? Er bejahrt die Frage ohne zu zögern. Wobei er zugibt, Filme anders zu sehen: Mit einem prüfenden, technisch geschulten Blick. Dennoch betritt er gerne den Kinosaal und nimmt als Gast darin Platz: „Ich hatte kürzlich einen richtig schönen Moment, als ich einen Film in unserer Programmreihe ‚Blick ins Archiv‘ zeigte. Der Film heißt ‚The Big Circus‘ („Die Welt der Sensationen“). Kein Meisterwerk. Ich hatte ihn vorher am Schneidetisch gesehen, um zu prüfen, wie verkratzt er war. Bereits dort wurde mir klar, dass er unfassbar schöne Farben hat.
Aber auf der Leinwand hat er dann so richtig gestrahlt! Das war … das war geil, einfach nur geil!“ Nils Daniel Peiler sitzt in dem Moment am Nebentisch, unterbricht seine Arbeit am Laptop, schaut herüber: „Ich empfinde das nach wie vor wie Zauberei. Man hat diesen Streifen und auf einmal sieht und hört man was.“ Pfeiffer entgegnet: „Ja, ja, das ist Physik und die Trägheit des Gehirns. Aber das reicht schon aus.“