Haus der Photographie: Ich sehe was, was du nicht siehst

Gleich in ihrer Antrittsausstellung in den Deichtorhallen führt Nadine Isabelle Henrich, die neue Kuratorin des Hauses der Photographie, mitten in die Gegenwart hinein, in Verschwörungstheorien – und Glitches
Andrea Orejarena & Caleb Stein: Mars Desert Research Station, 2021 (©Orejarena & Stein)

SZENE Hamburg: Sie sind vom Getty Research Institute in Los Angeles an das Haus der Photographie gekommen und starten gleich mit einer hochaktuellen Ausstellung über Desinformation.

Kuratorin des Hauses der Photographie: Nadine Isabelle Henrich (©Philipp Meuser)

Nadine Isabelle Henrich: Die Sensibilisierung für dieses Thema hat auf jeden Fall auch mit meiner Zeit in den USA zu tun. Social Media werden dort schon länger und von einer breiteren Masse genutzt. Deshalb sind Verschwörungstheorien und Desinformationskampagnen wesentlich weiter verbreitet und es ist stärker sichtbar, wie digitale Bildkulturen die Gegenwart verändern. Gleichzeitig ist das, was sich dort abzeichnet ein Ausblick in eine mögliche Zukunft für Deutschland und die EU. Das ist einer der Gründe, warum die Ausstellungsreihe „Viral Hallucinations“ mein Antrittsprojekt ist. Ich finde, wir sollten sehr genau hinschauen, was in diesem Bereich gerade passiert.

Gerade auch im Superwahljahr 2024?

Das ist auf jeden Fall der Kontext, in den das Projekt eingebettet ist. Gerade sieht man auch in Europa und dem UK, was passieren kann, wenn über Social Media Desinformation verbreitet wird. Es ist leicht Radikalisierung zu säen, die auch nach faktischer Korrektur nicht mehr einzufangen ist. Auch wenn die Ausstellungsreihe keine politische ist, versucht sie Strategien aufzuzeigen, gesellschaftlichen Auswirkungen nachzugehen und zu zeigen, welche Rolle die Fotografie und die viralen Bildkulturen auf Social Media dabei spielen. Ich denke, das ist ein Themenfeld, dem sich die Fotoszene und auch die zeitgenössische Kunst mit ihrer Bildkompetenz annehmen sollte.

„Tactics and Mythologies“ untersucht Ästhetiken der Desinformation

Andrea Orejarena & Caleb Stein: Pink Desert Facade, 2022 (©Orejarena & Stein)

Wie geht das New Yorker Duo Andrea Orejarena & Caleb Stein in Ihrer Auftaktausstellung damit um?

Wir zeigen zwei ihrer Projekte. „Long Time No See“, das in Vietnam entstand, untersucht die aktivierende und mobilisierende Rolle von Fotografie im historischen Kontext. Gemeinsam mit Jugendlichen, die bis heute unter dem Einsatz der chemischen US-Waffen leiden, haben sie einen Gegenpol zur Repräsentation des Vietnamkriegs und der Darstellung des Leids durch amerikanische Fotografen.

In der Weiterentwicklung ist dann ihr Projekt „American Glitch“ entstanden, das Ästhetiken der Desinformation in der Gegenwart untersucht. Innerhalb von vier Jahren haben sie im Kontext von Verschwörungstheorien 2000 Bilder auf Social Media gesammelt und eine Typologie dieser neuen Bildformen entwickelt. Dabei haben sie sich auf das sehr populäre Phänomen des „Glitch in Real Life“ konzentriert, das besagt, dass wir in einer Simulation leben. Dessen Entstehung hat auch mit dem Hype um das Metaverse zu tun, mit dystopischen KI-Fantasien und auch damit, dass ein Großteil der Gesellschaft die aktuelle Lebenswelt in ihrer Komplexität nicht mehr versteht. Schließlich nutzen wir den ganzen Tag digitale Systeme, deren Mechanismen immer weniger Menschen erklären können.

Es ist leicht Radikalisierung zu säen

Nadine Isabelle Henrich

Weil sie bewusst als Black Boxes angelegt sind.

Genau. So hält die Techindustrie die Mehrheit ihrer Nutzer:innen davon ab, Einfluss durch fundierte Kritik zu nehmen. Und das verstärkt natürlich noch das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. So hat sich diese Simulationsfantasie zu einem großen Online-Trend entwickelt. Menschen teilen global Fotografien, die durch das Aufspüren von „Glitches im Rendering der Simulation“ dessen Existenz belegen sollen. Dazu gehörten Bilder von Wolken, die sich in Pixel zu zerlegen scheinen oder auch Doppelgängermotive, die an popkulturelle Klassiker wie „The Matrix“ anknüpfen.

Andrea Orejarena und Caleb Stein haben eine Landkarte der Orte angelegt, wo diese verschwörungstheoretischen Phänomene angeblich gesichtet wurden. Sechs Monate haben sie im Auto gelebt und sind die USA abgefahren, um diese zu fotografieren. Ihre Dokumentarfotografie erinnert an die Arbeiten von Bernd und Hilla Becher. Aber gleichzeitig hat das Projekt, das diese völlig aus dem Ruder geratene Weltwahrnehmung wieder in die physische Welt zurückholt, Humor. Denn ihre Suche ist natürlich eine Art Scheitern mit Ansage, denn wie soll man an diesen Orten jene viralen Halluzinationen ernsthaft dokumentieren?

Echtzeit-Archivierung von digitalen Bildkulturen

Andrea Orejarena & Caleb Stein: Mirror House in the Desert, 2021 (©Orejarena & Stein)

In der Ausstellung präsentieren Sie nicht nur die Landschafts- und Architekturaufnahmen der beiden, sondern auch das Archiv.

Ja, erstmals lassen wir ihre künstlerischen Arbeiten mit den 2000 verschwörungstheoretischen Social-Media-Funden in einen direkten Dialog treten. Nach Bildtypen geordnet werden sie in einer gläsernen Archivskulptur projiziert und bieten einen einmaligen Überblick über das Phänomen.

Ist die Möglichkeit, Kontexte wie diese zu schaffen, der große Unterschied zu den Bildwelten durch die wir uns heute täglich hindurch scrollen?

Ich finde, es ist generell ein großer Unterschied zur digitalen Wahrnehmung, eine Fotografie in ihrer Dimension und Materialität im Raum zu betrachten. Und in einem Umfeld, in dem eine bestimmte Konzentration und eben nicht ein sogenannter „Hyper Attention Modus“ herrscht, mit dem wir online sind. Ganz abgesehen davon, dass die Bilder in Feeds, auf Instagram, Snapchat oder auch X durchaus auch wieder verschwinden. Sie blitzen kurz auf und oft kann man sie anschließend gar nicht mehr finden. Und selbst wenn man sie wiederfindet, weiß man nicht, ob sie zwischenzeitlich bearbeitet wurden.

Ich finde es sehr wichtig, dass Fotograf:innen und Künstler:innen zunehmend eine Art von Echtzeit-Archivierung vornehmen, indem sie über Jahre hinweg diese digitalen Bildkulturen sammeln, sie reflektieren, neu ordnen und der Gesellschaft wieder zurückgeben. Das ist eine Übersetzungsleistung, die sich komplett von unserem Smartphone-Alltagsmodus unterscheidet und die mich als aktuelle künstlerische Praxis mit eigener Ästhetik sehr interessiert.

Haus der Photographie: Mehr Bildungs- und Forschungsarbeit

Das hört sich so an, als sei mit den monografischen Modefotografie-Schauen im Haus der Photographie jetzt Schluss?

(lacht) Die Auftaktausstellung mit den Arbeiten von Andrea Orejarena & Caleb Stein ist natürlich auch eine monografische Schau. Und in der geplanten „Legacy“-Reihe wird es ebenfalls umfangreiche Einzelwürdigungen geben. Wichtig ist mir aber, mehr Bildungs- und Forschungsarbeit zu leisten und zu den Ausstellungen Symposien, Vorträge oder Workshops anzubieten. Wir wollen kein Satellit sein. Deswegen möchte ich auch mehr Schnittstellen zu der tollen Fotoszene in Hamburg schaffen und Möglichkeiten bieten, sich an den Projekten zu beteiligen.

Andrea Orejarena & Caleb Stein: Tactics and Mythologies, Eröffnung 6. September 2024., 19 Uhr, Phoxxi, Haus der Photographie, bis 26. Januar 2025

Dieses Interview ist zuerst in SZENE HAMBURG 09/2024 erschienen.

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