„Wir legen auch gerne mal den Finger in die Wunde“

„Hänsel und Gretel“ aus Engelbert Humperdincks gleichnamiger Märchenoper werden im Opernloft in der Regie von Intendantin Inken Rahardt zu „Hans und Grete“ – zwei Patienten einer Demenzstation
Erstmals auf der Opernloft-Bühne: Tilman Birschel und Sylvia Bleimund als „Hans und Grete“ (©Inken Rahardt)
Erstmals auf der Opernloft-Bühne: Tilman Birschel und Sylvia Bleimund als „Hans und Grete“ (©Inken Rahardt)

SZENE HAMBURG: Inken, Humperdincks „Hänsel und Gretel“ wird üblicherweise als Oper für Kinder wahrgenommen und inszeniert. Warum eignet der Stoff sich auch für Erwachsene?

Inken Rahardt: Ich finde, musikalisch ist die Oper gar nicht für Kinder gemacht. Mit Ausnahme der Volkslieder wie „Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh?“ oder „Brüderchen, komm tanz mit mir“ handelt es sich um eine große durchkomponierte Oper, die auch für die Sänger gar nicht so leicht ist. Es läuft musikalisch immer wieder anders, als man denkt. Besonders in dem Teil, in dem die Hexe auftritt. Außerdem ist die Oper für Kinder viel zu lang.

Warum hast du dich für diesen Stoff entschieden, und welche Regie-Idee trägst du an ihn heran?

Ich kenne die Oper quasi in- und auswendig. Wir haben sie schon früher am Opernloft realisiert, und ich habe selbst die Hexe gesungen. Als ich dann einige Jahre meine Mutter versorgt und später regelmäßig auf der Demenzstation im Pflegeheim besucht habe, entstand die Idee, das Thema Demenz mit dem Märchenstoff zu verbinden. Das Ganze ist schon fünf Jahre her, weil wir die Produktion wegen Corona immer wieder verschieben mussten.

Und wie wird diese Idee von dir umgesetzt?

Wir spielen die Oper nicht einfach von A bis Z durch, sondern ich habe das Werk komplett zerschnitten und dann wieder neu zusammengesetzt. Zeigen wollte ich dabei den Wechsel von ganz alltäglichen Situationen mit Schüben von Realitätstrübung: Dann gibt es diese Verwirrmomente, in denen sich Texte und Situationen falsch anfühlen und nicht mehr richtig eingeordnet werden können. Vor der Bühne gibt es eine Gaze, auf die Bilder projiziert werden können, wenn Hans und Grete Dinge sehen, die andere nicht sehen können. Manchmal verhalten sich dann auch die Pflegerinnen seltsam. Aber vielleicht nur deshalb, weil wir sie durch die Augen von Hans und Grete betrachten.

„Demenz ist ein Thema, mit dem wir alle uns befassen müssen“

Gibt es ein Pendant für diese Verwirrmomente im Original-Libretto?

Ich beziehe mich vor allem auf den Verfolgungswahn, der bei demenziell Erkrankten vorkommt. Sie haben oft das Gefühl, dass die eigenen Kinder, die sich um sie kümmern, sie bestehlen oder sogar umbringen wollen. Da wird manchmal sogar die Polizei gerufen, und es entstehen großen Familiendramen. Das spiegelt sich für mich in der Musik der Hexe, aber auch in der Angstmusik der großen Waldszene wider, in der die Kinder sich verlaufen. Solche Situationen habe ich auch auf den Demenzstationen erlebt, wo die Erkrankten manchmal nicht in der Lage sind, ihr Zimmer wiederzufinden. Oder sie suchen dort etwas, das gar nicht da ist. Für diese Menschen ist ihre Umgebung unüberschaubar groß und die Situation, wenn sie nicht wissen, wo sie sind, psychisch extrem belastend.

Das Opernloft packt sonst eher Themen an, die auf ein jüngeres Publikum abzielen, beziehungsweise arbeitet das klassische Repertoire entsprechend auf. Das spiegelt sich auch im vergleichsweise niedrigen Durchschnittsalter eurer Sängerinnen und Sänger wider. Fällt die aktuelle Produktion da nicht etwas aus dem Rahmen?

Ja und nein. Natürlich versuchen wir einerseits, die klassischen Stoffe jung rüberzubringen. Trotzdem greifen wir auch Zeitthemen auf und legen gerne mal den Finger in die Wunde. Das haben wir mit „La Bohème“ getan, wo wir uns mit Influencer:innen beschäftigen, oder mit „Semiramis“, wo wir das Thema „Frau und Karriere“ aufgegriffen haben. Demenz ist ebenfalls ein Thema, mit dem wir alle uns befassen müssen. Die Studien sagen, dass bald schon mehr als die Hälfte der Bevölkerung betroffen sein wird. Aber ich mache kein Dokumentationstheater und möchte auch niemanden zwingen, über diese Krankheit nachzudenken. Dafür gibt es sehr schöne, berührende Momente in diesem Stück.

„So etwas hat meine Mutter nicht erlebt“

Gründete 2002 zusammen mit Yvonne Bernbom das Junge Musiktheater Hamburg, den Vorläufer des Opernlofts: Inken Rahardt (©Silke Heyer)
Gründete 2002 zusammen mit Yvonne Bernbom das Junge Musiktheater Hamburg, den Vorläufer des Opernlofts: Inken Rahardt (©Silke Heyer)

Die beiden Hauptdarsteller Tilman Birschel und Sylvia Bleimund hat man auf eurer Bühne noch nicht gesehen …

Ich habe Sänger:innen gesucht, die etwas mehr Jahre auf dem Buckel haben. Das Opernloft ist ja eher ein Karrieresprungbrett für die Jungen. Tilman kenne ich schon sehr lange, wir haben aber noch nie zusammengearbeitet. Er hat ein kleines Tourneetheater in Hannover: „Oper an der Leine“. Sylvia hat bei uns neu vorgesungen und Tilman als Bühnenpartner vorgeschlagen. Die Partien sind für beide extrem anstrengend. Sie singen Hans und Grete, aber auch Teile der Eltern und der Hexe. Ich habe die Rollenverteilung komplett verändert.

Welche Rollen gibt es in deiner Inszenierung außerdem?

Die drei anderen Sängerinnen spielen die Pflegerinnen und singen Partien aller Figuren. Wenn dann eine Pflegerin mit der Arie der Mutter über die Armut der Familie klagt, kann das auch als Hinweis auf den Pflegenotstand gedeutet werden.

Hat dich die Regiearbeit emotional sehr zurückgeworfen auf die letzten Jahre mit deiner Mutter, oder war die künstlerische Verarbeitung sogar ein Mittel, um Abstand zu gewinnen?

Ganz wichtig: Ich erzähle auf der Bühne nicht die Geschichte meiner Mutter. Hans und Grete entwickeln in ihrem fortgeschrittenen Alter eine Art Liebe füreinander. So etwas hat meine Mutter nicht erlebt. Überhaupt bleiben wir mit den Details zum Krankheitsverlauf sehr an der Oberfläche und bewegen uns in einer ästhetisch liebevollen Umgebung. Aber ich war bei dieser Inszenierung tatsächlich manchmal wie blockiert. Schnelle Entscheidungen zu treffen, fiel mir schwerer als sonst. Ich hatte auch mit mir selbst zu kämpfen und Zweifel, ob ich überhaupt noch Regie führen kann. Das war schon eine besondere Erfahrung. Am Ende haben wir dann aber doch immer eine gute Szene erarbeitet.

„Manche Stücke laufen schon wieder ganz gut“

Kannst du als Regisseurin sonst das, was auf der Bühne geschieht, emotional immer von dir abtrennen?

Bei „Semiramis“ fiel es mir ebenfalls schwer. Die große Frauenfeindlichkeit, die das Berufsleben mit sich bringt und die ich dort thematisiere, hat mich sehr angefasst. Da gab es Szenen, bei denen ich selbst noch in den Vorstellungen angefangen habe zu flennen, weil es mich einfach wütend macht, dass wir seit so vielen Jahrhunderten in dieser Hinsicht einfach nicht weitergekommen sind.

Wie sieht die Lage am Opernloft nach Corona aus?

Manche Stücke laufen schon wieder ganz gut, andere nicht. Unsere „Bohème“ mit den Influencer:innen, die in einem Swing-Club spielt, ist gut besucht. „La Traviata“ auch. „Tosca“ und „Der Ring des Nibelungen“ haben wir jetzt länger nicht gespielt, sodass die Leute beim Kartenkauf erst mal wieder zurückhaltend sind. Man kann also nicht sagen, dass das Publikum schon wieder vollständig zurückgekehrt ist. Aber wir arbeiten daran, mit tollen Neuproduktionen wieder Lust auf das Theater und die Oper zu machen.

„Hans und Grete“ im Opernloft ist noch bis zum 16. April 2023 zu sehen

Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 03/2023 erschienen.

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