Prof. Bernhard Pörksen im Interview: „Der lokale Journalismus ist gefährdet“

SZENE HAMBURG feiert in diesem Jahr 50-jähriges Bestehen. Ein Gespräch mit Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen über den Stellenwert von Stadtmagazinen, die Herausforderungen des Medienwandels und mögliche Strategien

Prof. Bernhard Pörksen beobachtet die Medienentwicklung mit großer Neugier (©AlbrechtFuchs.de)

SZENE HAMBURG: Prof. Bernhard Pörksen, SZENE HAMBURG feiert dieses Jahr 50-jähriges Bestehen. Stimmt es, dass Sie das Magazin in Ihrer Zeit als Professor an der Universität Hamburg regelmäßig gelesen haben?

Prof. Bernhard Pörksen: Ja. Ich habe sogar mal versucht, einen Artikel in der SZENE zu platzieren. Eine Auftragsarbeit. Ein Porträt des einstigen Hamburger Neonazis Christian Worch. Aber ich bin beim Schreiben gescheitert, starr vor Schock. Und würde heute sagen: Das war gut so. Warum über einen bekennenden Neonazi schreiben, der damals Richtung Osten drängte und auf den Straßen von Halle aufmarschierte? Ich erinnere mich noch an die Szenen. Rechtsextreme Demonstrierende, die auf dem Marktplatz in Halle offen den Hitlergruß zeigten, Häuser besetzten, Waffen aus den Beständen der russischen Armee kauften. Es war eine vollkommen regellose Zeit, bald nach dem Mauerfall. Der Text, den ich damals zusammen stümperte, blieb ungedruckt. Aber seitdem habe ich SZENE HAMBURG immer beobachtet.

Heute nehme ich SZENE HAMBURG als eine Art Lebensgefühl-Medium wahr

Prof. Bernhard Pörksen

Wie haben Sie SZENE HAMBURG in all den Jahren wahrgenommen?

Als eine Art Inkubator-Medium, das mal eine politische Phase hatte, mal eine Zeitgeist-Phase, mal eine Gonzo- und New Journalism-Phase. Es war ein Medium, in dem sehr unterschiedliche Strömungen zusammenkamen und viel experimentiert wurde. Ich erinnere mich noch gut an den Kolumnisten Uwe Kopf, der mit jeder Kolumne für kleine Schockwellen in der Stadt gesorgt hat – und sicher auch für jede Menge Abo-Kündigungen oder juristische Auseinandersetzungen. Heute nehme ich SZENE HAMBURG als eine Art Lebensgefühl-Medium wahr, das den Vibe, den Rhythmus und die Farbe einer Stadt zu erfassen versucht. Von außen betrachtet ist das Magazin unpolitischer und weniger aggressiv als früher.

Die Rolle von Stadtmagazinen

Als die ersten Stadtmagazine in den 1970er-Jahren aufkamen, boten sie vor allem eine Art Gegenkultur zum Mainstream. Es ging darum, die Themen anzusprechen, die unbequem waren und in den etablierten Medien nicht oder kaum vorkamen. Welchen Stellenwert haben Stadtmagazine heutzutage noch?

Als schlecht verkappter Idealist würde ich sagen, dass die Stadtmagazine heute eine wichtige Rolle als Spagat-Medien spielen. Als Medien, die idealerweise das große Gespräch einer Stadt über sich selbst organisieren, vorantreiben und die Kontroversen vor Ort thematisieren. In Zeiten fragmentierender Aufmerksamkeit sowie der digitalen und analogen Selbstisolation in hermetischen Milieus der Selbstbestätigung kann ein Stadtmagazin dem kommunikativen Brückenbau dienen, ein Zugehörigkeitsgefühl auf lokaler Ebene erzeugen.

Fehlt es für diese Aufgabe nicht längst an Personal und an finanziellen Mitteln?

Stadtmagazine sind so etwas wie seismografische Medien, die die Probleme des Journalismus – Arbeit mit wenig Personal, die Verdichtung von Arbeitsabläufen, immer weniger Zeit, immer weniger investigative Recherchen – in verschärfter Form aufzeigen. Faktisch ist es so, dass die Stadtmagazine ähnlich wie die Lokalzeitungen mit der Digitalisierung – der dritten großen Medienrevolution nach der Erfindung der Schrift und der Erfindung des Buchdrucks – ringen. Wir sehen derzeit eine tektonische Verschiebung unserer gesamten publizistischen Architektur: Im vergangenen Jahr haben drei Konzerne – Alphabet, Meta und Amazon – mehr als die Hälfte der gesamten Werbeeinnahmen weltweit auf sich vereinigen können, mehr als 70 Prozent auf dem Digitalmarkt. Das heißt, viele der Anzeigen, von denen traditionelle Stadtmagazine gelebt haben, sind weggebrochen und ins Netz abgewandert. Damit ist eine ganz wesentliche Finanzierungsquelle des lokalen Journalismus wahrscheinlich für immer verloren.

Stadtmagazine sind so etwas wie seismografische Medien, die die Probleme des Journalismus in verschärfter Form aufzeigen. 

Prof. Bernhard Pörksen

Welche Überlebenschancen haben Stadtmagazine in dieser Situation?

Ich hoffe, dass sie wichtige Medien bleiben, die das große, grummelnde Selbstgespräch einer Stadt befeuern und orchestrieren. Ob das gelingt, ist offen. Wir sehen ja das große Stadtmagazin-Sterben. Und auch die Initiativen in der Zeitgeist-Phase – denken Sie nur an PRINZ aus dem Jahreszeiten Verlag – haben nicht funktioniert. Warum? Die Antwort: Lokale Berichterstattung kann man nicht skalieren. Sie ist nun mal an einen Ort gebunden. Diese Bindung an den Ort gibt dieser Form von Journalismus einen ganz besonderen Charme, ist aber unter den gegenwärtigen Bedingungen ein Überlebensrisiko.

Über die Chancen für das gedruckte Magazin

Sollten Stadtmagazine vermehrt aufs Internet und Social Media setzen, in der Hoffnung, dort noch Anzeigen generieren zu können?

Aus meiner Sicht kann man als Stadtmagazin diesen Wettlauf im Netz ohnehin nicht gewinnen. Ein Magazin bietet eine andere Tonalität, einen anderen Stimmungsentwurf im Vergleich zu einem Online-Medium, das einen aufregt, auch mal mit Schlagzeilen und Teasern anbrüllt, um überhaupt noch Aufmerksamkeit in einer lauten, ungezähmten Umgebung zu erlangen. Ich hoffe einfach, dass die Zahl der ausgeruht Lesenden, die auch das haptische Erleben des Blätterns mit Fotostrecken und Lesestücken schätzen, ausreichend hoch bleibt.

Die gegenwärtige Entwicklung gibt nicht viel Anlass zu einem solchen Optimismus, oder?

Nun ja, es gibt immer auch eine eigene Dialektik der Kulturentwicklung. Je schneller, je fragmentierter, je unübersichtlicher und gehetzter eine Medienumwelt, desto mehr wächst das Gegenbedürfnis: die Sehnsucht nach Entschleunigung, nach Übersicht, Tiefe. Hier liegt aus meiner Sicht durchaus eine Chance für das gedruckte Stadtmagazin.

Ich hoffe, dass die Zahl der ausgeruht Lesenden, die auch das haptische Erleben des Blätterns mit Fotostrecken und Lesestücken schätzen, ausreichend hoch bleibt.

Prof. Bernhard Pörksen

Worin genau liegt diese Chance?

Im Bedienen eines Gegenbedürfnisses, als opulentes Medium für Leserinnen und Leser, die stöbern und flanieren, die sich Hintergrundgeschichten zu dem, was sie in der Stadt erleben, wünschen. Es gilt, so betrachtet, exklusive Nischen zu finden, sich von der Atemlosigkeit zu verabschieden und diese Vertiefungssehnsucht zu bedienen. Vielleicht liegt darin eine Chance. Je näher am Menschen, je direkter und unmittelbarer die Berichterstattung ist, desto weniger lässt sich das eigene Angebot ersetzen. Und desto unberechenbarer und interessanter wirkt man, denke ich. Veranstaltungshinweise bekomme ich im Netz mit zwei Klicks. Aber ohne Eskapismus die schönen Seiten einer Stadt feiern, kritisch sein und doch voller Wärme für die besondere Lebendigkeit vor Ort – das erscheint mir als die optimale Richtung.

Lokaljournalismus besonders gefährdet

Steigende Papierpreise, schwindende Anzeigen und sinkende Auflagenzahlen erschweren es, eine solche Gegenstrategie einzuschlagen. Die Realität heißt oft: weniger Personal, weniger feste Mitarbeiter, mehr – nicht selten unbezahlte – Praktikanten. Selbst einstige Flaggschiffe wie Gruner + Jahr und die „Morgenpost“ trennen sich von Magazinen, stellen die Print-Produktion teilweise ein und entlassen Mitarbeiter. Ist hochwertiger, kritischer Journalismus auf lokaler Ebene überhaupt noch finanzierbar?

Aus meiner Sicht ist gerade die Schwächung des lokalen Journalismus unabweisbar. Sie haben die Beispiele genannt. Und wir sehen eine solche Entwicklung längst auch in anderen Städten. Tageszeitungen setzen auf Wochenendausgaben und stellen sich die Frage: Wie lange können wir überhaupt noch in gedruckter Form erscheinen? Im Netz wiederum dominieren die Digital-Giganten den Anzeigenmarkt und haben diesen in einer nie da gewesenen Weise kannibalisiert. Wir erleben also ein merkwürdiges Paradox der Medienentwicklung: einerseits eine gigantische Öffnung des kommunikativen Raumes. Auf einmal hat jeder eine Stimme – wunderbar! Und auf der anderen Seite gibt es eine totale Vermachtung, Zentralisierung und Re-Feudalisierung eben dieses Raumes. Ganz wenige Digital-Giganten bestimmen die Spielregeln. In dieser Situation ist der lokale Journalismus besonders gefährdet – ein tatsächlich dramatischer Verlust.

Wir wissen, dass in dem Moment, in dem der qualifizierte Lokaljournalismus verschwindet, die Korruption zunimmt

Prof. Bernhard Pörksen

Was geht damit verloren?

Ich war jetzt über drei Jahre hinweg immer wieder im Silicon Valley und den USA unterwegs. Hier sieht man live, wie sich das Verschwinden des Lokaljournalismus auswirkt und wie sich Nachrichtenwüsten bilden, in denen es überhaupt keine unabhängige Berichterstattung mehr gibt. Wir wissen, dass in dem Moment, in dem der qualifizierte Lokaljournalismus verschwindet, die Korruption zunimmt, das zivilgesellschaftliche Engagement schwindet und die Bullshiter und PR-Spezialisten in das entstandene Vakuum hineindrängen. Das ist ein empirisch gut abgesicherter Befund. Dann kommen die Populisten und produzieren schein-journalistische Angebote, die aber alles andere als unabhängig, alles andere als kritisch sind, sondern ganz eigenen Interessen dienen.

Gibt es nicht auch selbst verschuldete Entwicklungen, die eine gewisse Skepsis bei den Leserinnen und Lesern befördern? Die Personen und Institutionen, über die man im Lokalen berichtet, sind ja nicht selten auch potenzielle oder tatsächliche Anzeigenkunden …

Stimmt. Und das Verhältnis von Nähe und Distanz muss hier immer wieder neu austariert werden – und zwar unter verschärften Bedingungen. Man fliegt ja als Journalist nicht mal eben ein, sondern trifft die Menschen, über die man schreibt, vielleicht schon übermorgen auf irgendeinem Empfang wieder. Aber natürlich braucht es aus meiner Sicht – und da argumentiere ich wieder als Idealist – eine absolut sichere Brandmauer zwischen Anzeigenabteilung und Redaktion. Sonst beschädigt man tatsächlich die eigene Glaubwürdigkeit. Die aber ist für einen funktionierenden Journalismus existenziell. Ganz simpel: Wie will man einer Enthüllung Gewicht verleihen, wenn die Leserinnen und Leser einem nicht mehr vertrauen?

Ich bewundere Journalistinnen und Journalisten, die mit dem Tempo, der Arbeitsverdichtung und der Ungewissheit im Beruf gut leben können.

Prof. Bernhard Pörksen

Sie haben 1996/1997 ein Volontariat beim „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“ absolviert. Wenn Sie heute im gleichen Alter wären, aber über ihr heutiges Wissen verfügten, würden Sie den Beruf des Journalisten noch anstreben?

Ich tue mich schwer mit der Antwort, weil mir der Journalismus schon damals zu schnell, zu laut und zu hektisch war, trotz total idealer Bedingungen. Wir saßen in einer weißen Villa am Hamburger Mittelweg. Die Kirche überwies jedes Jahr viele Millionen. Und wir konnten machen, was wir wollten. Mein Job: einmal pro Woche eine Kolumne ins Blatt heben. Und einen Text bestellen, den irgendwer zulieferte. Das war meine Aufgabe. Heute würde man sagen: Lächerlich! Aber ich empfand all dies dennoch als Zumutung. 

Warum?

Wirklich, ich bewundere Journalistinnen und Journalisten, die mit dem Tempo, der Arbeitsverdichtung und der Ungewissheit im Beruf gut leben können. Und die dann auch noch die Chuzpe besitzen, Genies zu interviewen, ohne ihr Werk zu verstehen oder auch nur im Ansatz zu kennen. Ich konnte all dies nicht. Und empfand den Journalismus eine Zeit lang als eine einzige riesige Unverschämtheit. Insofern habe ich mich damals in Richtung Universität verabschiedet.


Zur Person

Bernhard Pörksen
ist seit 2008 Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen und war zuvor von 2002 bis 2007 als Juniorprofessor für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg tätig. Pörksen forscht unter anderem zu Fragen des Medienwandels, der Skandalisierung und den gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Entwicklungen. Er veröffentlichte u. a. die Bücher „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“ (gemeinsam mit Heinz Foerster), „Die große Gereiztheit“ sowie „Die Kunst des Miteinander-Redens“ (gemeinsam mit dem Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun).

Dieser Text ist in einer langen Version im Jubiläumsmagazin von SZENE HAMURG erschienen, jetzt zusammen mit der aktuellen Monatsausgabe am Kiosk oder online bei uns im Shop.

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