Inszenierung im Schauspielhaus: „Richard the Kid“

Deutsches SchauSpielHaus Hamburg – Blick von der Bühne in den Zuschauerraum
©Kristijan Balun

Richard III. ist vielleicht Shakespeares abgründigste Figur. Er lügt, intrigiert und mordet. Im Schauspielhaus geht „Richard the Kid“ in der Inszenierung von Karin Henkel auf die Suche nach seiner frühkindlichen Prägung. Ein Gespräch mit Dramaturgin Sybille Meier über eine Inszenierung, die keine einfachen Erklärmuster bietet

Interview: Dagmar Ellen Fischer

SZENE HAMBURG: Sybille Meier, Lina Beckmann wird Richard III. verkörpern – warum wird die männliche Figur weiblich besetzt?

Sybille Meier: Es geht um die Schauspielerin Lina Beckmann, die in ihrer Wandelbarkeit und großen Virtuosität genau die richtige Besetzung für diese Figur ist. Sie vermittelt einerseits: „Ich spiele euch den Bösewicht“, wird aber andererseits immer mehr tatsächlich zu diesem Tyrannen. Dass eine Frau die Rolle spielt, ist sekundär. Richard selbst bezeichnet sich im Stück als „Kröte“ und als „Wesen“, das sich keiner eindeutigen Kategorie zuordnen lässt, also auch keiner geschlechtlichen. Regisseurin Karin Henkel interessiert das Grenzgängerische und Spielerische daran.

„The Kid“ im Titel lässt an einen Jungen denken, verwandelt sich Lina Beckmann tatsächlich in ein Kind?

Sie spielt auch das Kindliche ihrer Figur, also den Zwölfährigen, mit ihren Mitteln. Wenn man in Shakespeares Dramen das Alter nachrechnet, stellt man fest, dass Figuren durchaus mit zwölf Jahren schon in die Schlacht geschickt oder mit 14 verheiratet werden.

„Dass Lina Beckmann Richard III. spielt, stand von Anfang an fest“

Woher weiß man überhaupt etwas über die Kindheit dieses Shakespeare’schen Despoten?

Wir haben schnell gemerkt, dass wir weiter in der Geschichte zurückgehen müssen, um etwas über seine ersten Jahre zu erfahren. Also haben wir uns auch mit Shakespeares „Heinrich VI.“ auseinandergesetzt, darin wird von Richards Kindheit erzählt. Wir nutzen also Texte aus beiden Dramen, sonst wären die Beweggründe der Figuren gar nicht verständlich.

Das Ensemble besteht in diesem Fall aus nur vier Darstellern, warum diese kleine Crew?

Ursprünglich war geplant, „Richard III.“ in Koproduktion mit den Salzburger Festspielen zu inszenieren. Dann kam Corona, und wir waren herausgefordert, darauf zu reagieren. Wir beschlossen, das Stück in zwei Teilen zu machen: erstens „the Kid“, und zweitens „the King“. Der erste Teil wird unter den aktuellen Pandemie-Auflagen mit wenigen Schauspielern umgesetzt, der zweite Teil dann hoffentlich im nächsten Jahr mit einem großen Ensemble unter normalen Bedingungen. Dass Lina Beckmann Richard III. spielt, stand von Anfang an fest – das war der Ausgangspunkt für Karin Henkels Vorhaben, das Stück überhaupt inszenieren zu wollen.

Konzentration auf die Familiengeschichte

Dann bleiben für die anderen zahlreichen Figuren also nur drei Schauspieler, Bettina Stucky, Kate Strong und Kristof Van Boven?

Wir haben uns bei dieser Inszenierung auf die Familiengeschichte konzentriert, auf die beiden Familien York und Lancaster, die sich bekämpfen. Darum geht es ja im Grunde von Anfang an in diesen Rosenkriegen, um zwei Herrscherfamilien, die ihren scheinbar legitimen Anspruch auf die Krone mit Krieg beantworten. Die Politiker, die darüber hinaus bei Shakespeare eine Rolle spielen, werden bei uns im ersten Teil nicht vorkommen.

Trotzdem wird jeder mehrere Rollen übernehmen müssen, welche Charaktere sind denn unentbehrlich?

Das sind die beiden Brüder von Richard, Edward und George zum Beispiel, und Anne natürlich, seine spätere Frau. Außerdem werden König Heinrich und dessen Frau Margareta auftauchen, die eine große und wichtige Rolle in Richards Kindheit gespielt haben.

„Wir werden bestimmt nicht historisch korrekt sein“

Wird auch hier wieder gegen den Strich besetzt, geschlechtlich gesehen?

Ja, das finde ich toll, dass man in unserer heutigen Zeit künstlerisch so frei ist zu entscheiden, wer was spielen kann. Diese Offenheit in der Figurengestaltung ergibt immer neue Spannungen.

Es geht also mehr um Familie und damit auch um Psychologie als um die Herrschaftshäuser?

Ich bin unsicher, ob man bei Shakespeare-Texten von einer komplexen Psychologie im heutigen Sinn sprechen kann. Wir beschäftigen uns mit den Konstellationen in den Familien, deren Haltungen. Und wir werden bestimmt nicht historisch korrekt sein, das war Shakespeare schon nicht, denn inzwischen weiß man ja, dass Richard III. gar nicht so ein schlimmer Herrscher gewesen ist, wie ihn der Autor zeichnet.

Wenn es um die Kindheit Richards geht, kommt sicher die Beziehung zu seiner Mutter ins Spiel?

Ja, das war ein Ansatz, der Karin Henkel sehr interessierte: diese traumatische Geburt, bei der das Kind missgestaltet auf die Welt kam und schon Zähne im Mund hatte. Hätte man das als Vorzeichen deuten und verstehen müssen, dass er ein Bösewicht ist? Aber wie hätte man damit umgehen sollen? Bei Shakespeare hatte Richards Mutter Schwierigkeiten, überhaupt eine empathische Beziehung zu diesem Kind aufzubauen.

„Woher kommt das Böse im Menschen?“

Oder ist es genau diese fehlende Mutterliebe, die ihn zu einem Monster macht? Denn Shakespeare lässt Richard III. an einer Stelle sagen, er habe sich bewusst dafür entschieden, böse zu sein …

Das ist eine sehr aktuelle Frage: Wie kann es sein, dass Menschen so sind? Wie kann dieses Böse so plötzlich hervorbrechen? Ist es von Anfang an da, und man kann im Grunde nichts tun, weil schon zu Beginn eine Deformation des Geistes existiert? Oder machen die Umstände ihn dazu? Ist es die zerstörte Kindheit aus Krieg und Gewalt und auch Lieblosigkeit, die aus ihm das gemacht hat, was er später geworden ist? Das ist eine sehr interessante Frage, die wir uns heute immer noch stellen: Woher kommt das Böse im Menschen?

Also: Ist er böse, weil ihm Mutterliebe fehlt, oder kann die Mutter ihn nicht lieben, weil er schon als Neugeborener böse war?

Vielleicht gibt es da keine eindeutige Zuweisung von Ursache und Wirkung. Oder keine eindeutige Schuld. Das bleibt in unserer Inszenierung offen, auch in der allgemeinen Verteidigung von Müttern, denn schnell könnte man denken: Na ja, wenn die Mütter in der Kindheit nicht dies und jenes getan hätten, dann wäre alles besser oder anders gelaufen.

Schlägt Karin Henkel den Bogen ins Hier und Jetzt?

Für sie ist folgende Frage interessant: Wie kann es denn sein, dass eine Nation oder ein Land in die Hände eines Tyrannen fällt? Warum akzeptieren Menschen, dass ein Staatsoberhaupt so offensichtlich lügt, und trotzdem gehen viele Menschen diesen Weg mit? Die Parallelen zur heutigen Zeit sind klar.

„Richard the Kid & the King“, noch bis Ende Januar 2023 am Deutschen Schauspielhaus

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