Rocko Schamoni taucht erneut ins Hamburg der 1960er- und 1970er-Jahre ein: In „Der Jaeger und sein Meister“ porträtiert er das zügellose Leben des Ausnahmekünstlers Heino Jaeger
Text & Interview: Ulrich Thiele
Heino Jaeger, anarchischer Satiriker, Stimmenimitator und Künstler, zu Lebzeiten kultisch als „Meister“ verehrt. Auf ihn passt das Bild vom Genie am Rande des Wahnsinns: Jaeger starb 1997 von Psychosen und Alkohol gezeichnet, heute ist sein Name den wenigsten bekannt. „Der Jaeger und sein Meister“ ist laut Schamoni das Hauptwerk seiner geplanten Freaks-Trilogie. Sein Vorgänger „Grosse Freiheit“ über den Bordellbesitzer Wolfgang „Wolli“ Köhler entstand eher zufällig.
Köhler habe er nur aufgesucht, um von ihm etwas über Heino Jaeger zu erfahren. Wobei er die Kiezgröße so gut kennenlernte, dass er ihm einen eigenen Roman widmete. Für den Jaeger-Roman sprach Schamoni mit Weggefährten, allen voran mit Jaeger-Freund Joska Pintschovius. Herausgekommen ist eine Freakshow mit so vielen Persönlichkeiten, die Jaegers Weg kreuzen, dass Schamoni dem Roman ein Personenregister voranstellt: Hubert Fichte, Dieter Bockhorn, Uschi Obermaier, Fritz Raddatz, Wilhelm Prinz von Homburg und auch Wolli Köhler. Warum diese Freakshow? Darüber gibt ein ausführlicher, sehr persönlicher und berührender Prolog Auskunft, in dem Schamoni den Tod seines Vater, dessen unerfüllte Sehnsucht, schöpferisch tätig zu sein und seine eigene, Schamonis, Faszination für Freaks beschreibt. Sein schöpferischer Drang (auch) als Resultat einer Melancholie, einer existenziellen Trauer über Vergänglichkeit und Leere, bekommt so eine fast schon verzweifelte Note, die sich mit dem Titel einer Doku über Christoph Schlingensief auf den Punkt bringen lässt: „In das Schweigen hineinschreien“.
Kritik
SZENE HAMBURG: Herr Schamoni, Sie schreiben im Prolog vom Gefühl, eine schöpferische Antwort auf die Welt geben zu müssen, „als wäre es unsere Aufgabe, Zeugnis abzulegen in Form einer Antwort auf den großen Chor“. Was macht das mit Ihnen, wenn Ihre Antwort auf den großen Chor von Kritikern verrissen wird?
Rocko Schamoni: Das macht mich traurig, weil es mir beweist, dass ich danebenlag, oder die Kritiker mich nicht verstanden haben. Ich lasse mich davon sehr verletzten, leider gehört das zu meinem Beruf. Und ich finde die Kritiker wichtig, wir brauchen sie, auch wenn sie uns zerstören wollen.
Hatten Sie manch harsche Kritik zu „Grosse Freiheit“ beim Schreiben des Jaeger-Romans im Hinterkopf?
Natürlich, jeder Schlag hinterlässt eine Narbe. Ich habe viele davon und merke mir jedes Wort und jeden Urheber.
Die Annäherung an Heino Jaeger
Wolli Köhler kannten Sie persönlich, Jaeger haben Sie sich über Recherche und Gespräche mit Menschen aus seinem Umfeld angenähert. Inwiefern macht das einen Unterschied beim Schreiben?
Na ja, das ist so, als ob man mit jemandem spricht, ihn oder sie spürt, riecht, vielleicht berührt, oder als ob man ein Buch über jemanden liest, ohne direkte Begegnung, nur noch ein Abbild, eine Vision. Es kommt nichts an die direkte Begegnung ran.
Jaeger ähnelt Wolli insofern, als er ein Grenzgänger ist. Welche Grenzen hat er überschritten?
Er hat die Regeln des deutschen Humors missachtet, in seinen Erzählungen gab es weder Stringenz noch Effektivität oder Aufgeräumtheit.
Sein „merkwürdig pointenloser Humor“, wie Sie schreiben, steht damit in krassem Kontrast zu dem, was man in Deutschland unter Humor versteht.
Es ging ihm gar nicht in erster Linie um Humor, er war Weltbeobachter und weil Menschen häufig so groteske Wesen sind, die so absurde Dinge tun, hat er das in seinem Kopf festgehalten und in Kunst umgewandelt.
Das gilt auch für seine Zeichnungen, die oft Zwitterwesen zwischen Mensch und Tier und dominante Geschlechtsteile zeigen. Im Roman philosophiert er an einer Stelle im Museum regelrecht über den Penis („Eine merkwürdige Vorstellung, wenn von einem nichts übrig bleibt als der eigene Penis, oder?“). Sie haben zwei solcher Zeichnungen an Ihrem Arbeitsplatz hängen – was sehen Sie darin, wenn Sie sie betrachten?
Ich sehe darin eine zerborstene Welt, die wir uns mit allen Anstandsund Benimmregeln, Konformitäten und Gesetzen schönreden und -denken. Aber die Welt der Menschen ist häufig nicht schön, sondern brutal, roh, verschlagen, bösartig, gierig, ignorant und unendlich dumm. Jaeger zeigt die Welt ohne Negligé.
Christoph Schlingensief hatte recht
Aus Ihrem Roman spricht ein Bedauern, dass die Zeit der Freaks vorbei ist und es solche Menschen wie Jaeger heute kaum noch gibt. Abgesehen vom Bedauern: Welche Antwort geben Sie auf die Gegenwart, wenn Sie einen Roman über das Hamburg der 1960er und 1970er schreiben?
Ich habe, wenn Sie so wollen, einen „historischen Roman“ geschrieben, allerdings ergibt sich daraus in meinen Augen sehr viel fürs Jetzt. Ich glaube, dass wir in der Gegenwart ein „Konformitätsproblem“ haben, weil die meisten Informationen aus denselben Quellen kommen und über dieselben Werkzeuge – soziale Netzwerke – verteilt werden. Ein „anders sein“ erscheint mir unter diesen Bedingungen immer schwieriger. Christoph Schlingensief warnte uns vor 20 Jahren, dass „Matrix“ wahr werden würde. Er hatte recht, wir hängen alle an denselben Schläuchen.
Wäre Jaeger kommerziell erfolgreich oder irgendwann von einer breiten Öffentlichkeit als „kultig“ entdeckt worden, glauben Sie, er wäre er wie fast jede Subkultur von dieser Konformitätskultur wegkommerzialisiert und vereinnahmt worden – mit Heino-Jaeger-T-Shirts bei H&M?
Nein, er hat alles dafür getan, dass es nicht so kommt und so ist es dann auch gekommen. Er hat sich dem Erfolg gezielt entzogen, der war ihm nicht wichtig genug.
Sie sagen, es gäbe „kaum“ noch Freaks. Wer gehört zu den Ausnahmen?
Zum Beispiel Helge Schneider und seine Leute. Die sind frei und verschroben.
Rocko Schamoni: „Der Jaeger und sein Meister“, hanserblau, 288 Seiten, 22 Euro
SZENE HAMBURG Stadtmagazin, September 2021. Das Magazin ist seit dem 28. August 2021 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!