Rollstuhltanzen: „Große Lebensfreude“

Einmal pro Woche bittet der Club Saltatio unter Trainerin Janett Stier in Rahlstedt aufs Parkett – ein Besuch bei Hamburgs einziger Rollstuhltanzgruppe
Der Spaß ist allen anzusehen: Rollstuhltanzen (©privat)

Es ist ein schöner Sommerabend in Rahlstedt am Nydamer Weg 44. Draußen zwitschern die Vögel, drinnen in der Halle geht die Post ab. „Everybody needs somebody to love“ schallt aus den Boxen. Der von Solomon Burke aufgenommene Klassiker von 1964 beflügelt Gabi Tietgen (72) und ihren Mann Hans (71). Rhythmisch wippen sie zunächst mit den Oberkörpern im Takt. Bei der ikonischen Stelle „I need you you you“ schmeißen sie die Arme in die Luft und strahlen sich verliebt an. Ein paar Meter neben ihnen genießt Sylvia Kaven (59) die Pirouetten, die sie geführt von ihrem Mann Uwe dreht (57). Zwischen den beiden Paaren hüpft Vivian Knoblauch (44) in kleinen Schritten voller Lebenslust über die Tanzfläche.

Ein ganz normaler Tanzkurs mit coolen Menschen. Könnte man denken. Doch bei diesem vom Club Saltatio Hamburg jeden Mittwochabend ab 18.30 Uhr veranstalteten 90-minütigen Vergnügen handelt es sich um den einzigen Rollstuhltanzkurs in Hamburg. Hans Tietgen und Sylvia Kaven sitzen im Rollstuhl, Vivian Knoblauch ist seit ihrer Geburt durch eine Halbseitenlähmung gehandicapt. Was Knoblauch, die Rollstuhlfahrer und ihre hier liebevoll als „Fußgänger“ betitelten Partner aber auf die Platte zaubern, ist sehr beeindruckend. Rumba, Walzer und Discofox sind als Musikrichtungen sofort wiederzuerkennen. Manche schmachtvollen Liebeslieder ermuntern zu großen Gesten und sogar konventioneller und längst zu oft gehörter Pop wie Max Giesingers „Auf das, was da noch kommt“ wird hier zur puren Motivation.

Von Rollstuhlfahrern und Fußgängern

Dafür sorgen an den Tanzabenden nicht nur regelmäßig die insgesamt zwölf Teilnehmer des vom Hamburger Sportbund bezuschussten Kurses. Sondern vor allem auch Janett Stier. Die 35-Jährige ist Fußgängerin, kommt aus dem Turniertanzen und ist seit 2016 Trainerin des Rollstuhltanzkurses. Ab und zu unterstützt sie ein weiterer Trainer aus dem Hannoveraner Raum. „Wir als Club Saltatio Hamburg haben damals bewusst geschaut, welche Nischen es beim Tanzen eigentlich gibt“, sagt Stier. „Der damalige Neffe unserer Vorsitzenden war in einem Rollstuhltanzkurs, den es heute nicht mehr gibt. So kam die Idee auf.“

Einfach mal reinschnuppern

Janett Stier

Stier wurde zunächst gefragt, ob sie die Fußgänger der Paare trainiert, bei denen ein Partner im Rollstuhl sitzt. „Nach einem halben Jahr war ich dann für alle zuständig“, sagt sie lachend. Während des Trainings lacht Stier überhaupt viel, hat viele lockere Sprüche parat. „Ich denke oft, meine Probleme sind doch wirklich klein im Vergleich zu unseren Rollifahrern, die so eine großartige Lebensfreude ausstrahlen“, sagt sie. Allerdings wäre es zu kurz gesprungen, Stiers Rollstuhltanzkurs auf die gute Laune reduzieren. Als Gruppe wurden bereits Choreografien eingeübt. Es gab mehrere Auftritte auf der Bühne, sogar in einem Hamburger Theater inklusive Standing Ovations für die Darbietungen der Rollstuhltanzgruppe.

Mit ganzem Herzen beim Rollstuhltanz dabei

Nach den ersten Tänzen ruft Stier die Gruppe zum Kreis zusammen. Sie erklärt nun einmal mehr, was wichtig ist. „Immer die Spannung in den Armen halten“, sagt Stier. Hat sie ein Partner nicht, könnte der Rollifahrer seinem Partner versehentlich über die Füße fahren. In der Regel führt der Mann, auch im Rollstuhl. Ausnahmen sind aber natürlich möglich. Der Rollifahrer muss zudem aufpassen, seinen Arm zum Beispiel bei Pirouetten nicht zu weit nach oben zu strecken, um seine Schultern nicht zu stark zu belasten. Ganz wichtig ist die aktive Rolle des Rollstuhlfahrers. Stier: „Ich hatte mal von einem Kurs gehört, in dem die Rollifahrer nur so ein bisschen hin und her schaukeln und die Fußgänger alles machen. Das wollten wir hier von Beginn an anders handhaben.“ Dieses Ansinnen ist in die Tat umgesetzt auf der Tanzfläche zu sehen. Hans Tietgen und Silvia Kaven bewegen sich aktiv mit, drehen ihre Rollstühle, sind voll integriert ins Geschehen.

Tanzen ist eben auch etwas sehr Emotionales

Gabi Tietgen

Kaven lächelt während des Einzelinterviews unentwegt. Als Jugendliche übte sie schon die Tanzschritte zu „Grease“ im Kinderzimmer mit einer Schulfreundin. Doch kaum volljährig musste sie einen schweren Schicksalsschlag verkraften. Vor 40 Jahren fiel sie im Juli 1984 als 19-jähriges Mädchen vom Kirschbaum und landete im Rollstuhl. Sechs Jahre später wurde aus der langen Freundschaft zu ihrem Partner Uwe Liebe. Seitdem sind die beiden zusammen. „Mein Mann wusste, dass ich gerne tanze. So haben wir immer wieder nach Möglichkeiten dafür gesucht und sind schließlich bei diesem Kurs gelandet. Es ist wunderschön, ein gemeinsames, aktives Hobby zu haben“, sagt Kaven. „Man sollte die Wünsche seiner Frau ja auch hören und umsetzen“, ergänzt Uwe verschmitzt. „Und auch mir macht es unheimlich viel Spaß mit meiner Frau zu tanzen. Wir sind beide mit ganzem Herzen dabei.“

Alle sind willkommen

Dieser Spaß ist auch Hans Tietgen anzusehen, der vor 25 Jahren aufgrund eines Arbeitsunfalls in den Rollstuhl musste. Er und seine Frau Gabi tanzten schon zusammen, als sie beide noch Fußgänger waren. „Nach meinem Unfall haben wir erst mal Freestyle auf Feiern getanzt“, sagt Hans Tietgen. „Wir waren dann neugierig, welche Schritte es überhaupt so für uns gibt. Tanzen ist eben auch etwas sehr Emotionales für uns beide“, erklärt seine Frau Gabi.

„Es ist wunderschön, ein gemeinsames, aktives Hobby zu haben

Sylvia Kaven

Beide Paare sind voll des Lobes über ihre Trainerin Janett Stier. Besonders hervorgehoben wird ihre Geduld, die Schritte und Figuren immer wieder zu erklären, bis sie tanzbar werden. Noch ein Lob für die Offenheit drauflegen kann Vivian Knoblauch. Mit ihrer Halbseitenlähmung gehört sie nicht zur klassischen Zielgruppe des Kurses. Sie kam trotzdem einfach vorbei – und wurde herzlich aufgenommen. „Ich habe mich hier sofort wohl gefühlt. Die Reaktionen auf mich waren sehr positiv“, erzählt sie. Ganz besonders gerne erinnert sie sich an die Tanzauftritte mit der Gruppe. „Viele Menschen kamen hinterher zu uns und sagten ,Mensch, so was geht, das ist ja klasse‘. Das habe ich immer als sehr schöne Bestätigung und Anerkennung empfunden.“ Als alle nach dem Interview wieder gemeinsam auf der Tanzfläche sind und zu einem langsamen Liebeslied übers Parkett gleiten, ist Trainerin Janett Stier noch eines wichtig: „Hier bei uns ist wirklich jeder willkommen. Auch E-Rollifahrer oder zwei Partner, die miteinander im Rollstuhl tanzen. Wir sind barrierefrei, alles ist da. Einfach mal reinschnuppern. Wir freuen uns auf euch.“

Club Saltatio Hamburg

Dieser Text ist zuerst in SZENE HAMBURG 09/2024 erschienen.

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