Nach „Herr Lehrmann“, „Neue Vahr Süd“, „Der kleine Bruder“, „Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“ und „Wiener Straße“ ist „Glitterschnitter“ der sechste Roman aus oder über das Leben von Herrn Lehmann
Text: Ingrun Gade
Element-of-Crime-Sänger Sven Regener spinnt seinen Frank-Lehmann-Kosmos fort. Nach fünf Romanen geht es in „Glitterschnitter“, wie schon im 2017 erschienenen „Wiener Straße“, ins Westberlin der frühen 80erJahre – in die überaus bunte Welt liebenswerter Freaks, die nach Selbstverwirklichung streben und danach, sich neu zu erfinden. Wer mit Regeners Figurentableau um Frank Lehmann und seine Freunde vertraut ist, ist hier klar im Vorteil, denn: Genauere Personenbeschreibungen sind Fehlanzeige, sodass es Neueinsteigern zu Anfang schwerfallen dürfte, durch die Massen an Charakteren durchzusteigen. Wobei: Die zig Spitznamen sorgen ja selbst bei den Protagonisten zeitweise für Verwirrung.
Ikea-Modellwohnung statt Ölbild
Zwischen etlichen Milchkaffees und Zigaretten nimmt ein gewaltiges Wirrwarr seinen Lauf: Ferdi, Karl und Raimund erhoffen sich mit ihrer titelgebenden Band Glitterschnitter – bekannt vor allem aus Regeners „Magical Mystery“ – und ihrer feschen Bohrmaschine, die den Bass ersetzt, den großen Gig auf der Wall City Noise – und erhalten eher unfreiwillig Verstärkung von Lisa.
Frank Lehmann will eine Bar zum Kaffeehaus umfunktionieren, der eigensinnige Künstler H.R. baut lieber eine Ikea-Modellwohnung auf, anstatt wie verlangt ein Ölbild zu malen. Dazu kommt ein Mutter-Tochter-Konflikt, die allmählich bröckelnde Freundschaft zwischen Kacki und P. Immel sowie Helgas Schwangerentreff, der beinahe in eine Schlägerei mündet, weil das damit einhergehende Rauchverbot auf grenzenloses Unverständnis stößt.
Ein kurzweiliges Stück Unterhaltungsliteratur
Die Handlung erstreckt sich über wenige Tage, als wäre eine Sequenz aus dem Leben der Beteiligten herausgelöst worden, die dafür umso ereignisreicher und wuseliger ist. Dadurch wirkt der Roman fast wie ein Theaterstück; der Dialog ist die dominierende Erzählform. Innere Monologe werden gerne auch mal durch ein langes Aneinanderreihen der Gedanken in einem einzigen Satz festgehalten, der sich über zwei Seiten erstrecken kann. Konträr dazu wird der Satzumfang vielmals mit wunderbar lakonischen Äußerungen aufgebrochen, die Handlung ist in kurze, schnell wechselnde Abschnitte unterteilt. Die Hauptkulisse ist hierbei wieder mal das Café Einfall, in dem noch zu viele Überbleibsel aus seinem ehemaligen Kneipendasein übrig sind.
Trotz der wechselnden stilistischen Mittel und der amüsanten dialektalen Einschläge ist „Glitterschnitter“ nicht gerade ein literarisches Meisterwerk. Macht aber nichts, denn Regener liefert ein kurzweiliges Stück Unterhaltungsliteratur voller bizarrer Situationskomik, in der subtil die großen Themen Liebe, Herkunft und Verrat gestreift werden – wodurch eine leichte Melancholie mitschwingt. All das im Rahmen einer besonderen Zeitepoche, die nur so sprüht vor Aktionismus, Experimenten und wilden Ideen.
Sven Regener: „Glitterschnitter“, Galiani-Berlin, 480 Seiten, 24 Euro
SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Dezember 2021. Das Magazin ist seit dem 27. November 2021 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!