Familienplanung und sexuelle Selbstbestimmung sollten mittlerweile für alle selbstverständlich sein. Warum das nicht so ist und wie es doch noch werden kann, erklären die Frauenbeauftragen der Elbe-Werkstätten Bianca Bicker, Andrea Junginger, Kristine Westermann mit ihren Vertrauenspersonen Chasa Chahine und Margarita Martinez und die Sexualpädagogin Annica Petri vom Familienplanungszentrum HH e. V. (FPZ)
Text & Fotos: Markus Gölzer
Man sitzt als besorgte Mutter am Bett seines Kindes auf der Intensivstation. Endlich kommt der Arzt. Seine erste Frage: Wo sind die Eltern? Dann könnte es sein, dass man im Rollstuhl sitzt. Und der Arzt nicht der Erste im Leben war, der einem das klassische Lebensmodell „Mutter“ nicht zugetraut hat. Kinderwunsch von Menschen mit Behinderung ist immer noch ein Tabu. Es gibt ganz schnell den Reflex: Alles darf sein, nur das nicht. Der Wind kommt bei behinderten Menschen mit Kinderwunsch nicht nur von gesellschaftlicher Seite von vorn, sondern auch aus dem persönlichen Umfeld. Vom Frauenarzt, der empfiehlt, doch bitte die Pille zu nehmen, bis hin zu den eigenen Eltern. Kristine Westermann, Frauenbeauftragte Elbe Ost, über ihre Erfahrungen: „Kinder zu bekommen, ist teilweise verpönt gewesen. Man hört ‚Du darfst keine Kinder haben‘ oder ,Das Jugendamt nimmt dir das Kind weg‘. Sogar ‚Du darfst nicht heiraten.‘ Das stimmte alles nicht. Ich habe zwei Kinder mit meinem Ehemann.“
Eine Behinderung ist nichts Defizitäres
Behinderung wird nach wie vor mit Krankheit verbunden. Es wird davon ausgegangen, dass sich diese Menschen nicht um ihre Kinder kümmern können. Annica Petri: „Behinderung wird von der Mehrheitsgesellschaft oft als etwas Defizitäres verstanden. Das ist falsch: Wie komme ich darauf, dass eine Mutter oder ein Vater im Rollstuhl ihr Kind nicht versorgen können? Da müssen wir über Assistenzgeräte reden und wie man eine Babywippe am Rollie anbringt und so weiter. Warum denken Menschen, dass das nicht möglich ist? Das ist das, was bei Inklusion fehlt: der Blickwechsel.“ Oder wie es Kristine Westermann in einem Statement formuliert: „Es muss noch viel bekannter werden, dass Frauen mit einer Einschränkung auch gute Mütter sein können.“
„Wir werden von vornherein schon als Opfer gesehen“
Mit oder ohne Kinderwunsch – Frauen mit Behinderung werden öfter benachteiligt, erleben häufiger Diskriminierung. Sie werden schlechter bezahlt und viermal so häufig Opfer sexueller Gewalt.
Bianca Bicker, Frauenbeauftragte Elbe ReTörn: „Viele wissen nicht, was ihre Rechte sind. Das sie Nein sagen dürfen, dass sie nicht alles machen müssen. Die Aufklärung fehlt bei vielen. Andersrum denken die Menschen, die diese Gewalt ausüben, mit denen kann man’s ja machen.“ Andrea Junginger, Frauenbeauftragte Elbe West: „Wir werden von vornherein schon als Opfer gesehen. Ich selbst hatte da auch schon ein Erlebnis. Ich dachte früher, dein Freund ist auch mein Freund, und da bin ich eines Besseren belehrt worden. Der Punkt ist: Das frisst sich so tief rein, dass man das nicht vergisst. Auch wenn man einen 120-prozentigen Schaden im Kurzzeitgedächtnis hat – das ist eine Sache, die vergisst du dein Leben lang nicht.“
„Menschen mit Behinderung haben ein Glaubwürdigkeitsproblem“
Chasa Chahine ergänzt: „Ich würde noch sagen, Frauen, die mit einer Behinderung aufwachsen, psychisch, geistig, körperlich, sind oft in Institutionen aufgewachsen, hatten viel mit ÄrztInnen zu tun, haben immer so erlebt, dass der Körper allen gehört, haben kein Gefühl für die Grenzen des eigenen Körpers auf psychischer Ebene. Viele Täter denken: Die kann ja froh sein, dass die überhaupt mal ein Mann beachtet und berührt.“ „Menschen mit Behinderung haben ein Glaubwürdigkeitsproblem“, führt Bianca Bicker weiter aus. „Viele denken sich, die weiß ja gar nicht, was das ist, der hat sie vielleicht nur an der Schulter angefasst. Man sollte dem Opfer glauben, aber viele machen es einfach nicht.
Das gibt es auch innerhalb von Einrichtungen. Der Gruppenleiter sagt: Das war doch nur ein Scherz. Die Frau denkt: Nein, das wollte ich jetzt nicht.“ Das macht es Tätern und Täterinnen leicht, ihre Strategien auszuspielen. Annica Petri: „Das Opfer einbinden in die Handlung, Angst machen, bedrohen, Schweigegebot auferlegen. Wenn jemand eine Lernschwierigkeit oder kognitive Behinderung hat, wirken Täter noch viel mächtiger. Und sind es auch. Dann ist es sehr wichtig, wie sensibel das Umfeld reagiert: Wenn ich berichten will als Opfer. Es kommt darauf an: Kann ich sprechen? Was ist, wenn ich gebärde? Wer versteht meine Gebärden? Was ist, wenn ich Autistin bin? Wer versteht meine Zeichen? Da kommt eine Vielfalt an Gründen zusammen, wo wir in allem, auch bei den Behörden, bei der Polizei, Fortbildung brauchen. Wenn jemand kommt und sagt, es ist etwas Schlimmes passiert: Jemand hat mich angefasst. Dass die Leute sensibilisiert sind, auch für verschiedene Behinderungsarten, Material haben wie zum Beispiel Gebärdenvideos.“
„Nein heißt Nein“
Bianca Bicker: „Barrierefreiheit fängt in den Köpfen an. Wo darf ich hin, was ist erlaubt, darf ich Nein sagen. Dann geht das weiter: Ärzte, Anwälte, Polizei, Beratungsstellen, an wen kann ich mich wenden. Man googelt das im Internet und viele verstehen das gar nicht. Ich habe bei den Elbe-Werkstätten ein Schulungskonzept in Einfacher Sprache entwickelt: ‚Nein heißt Nein: Schutz vor sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz‘. Solche Sachen sind überall wichtig. Nicht nur in Werkstätten und Wohnungseinrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern auch außerhalb.“
„Auch ein Mensch mit Lernschwierigkeiten ist ein erwachsener Mensch.“ Andrea Junginger spricht aus ureigener Erfahrung. Ihr wurde als erwachsene Frau auf einer Polizeistation wegen einer anderen Sache ein Polizeiteddy zur Beruhigung gereicht.
„Die Sexuelle Selbstbestimmung ist an vielen Punkten eingeschränkt“
Für Annica Petri ist es in der sexuellen Bildung wichtig, dass Menschen Worte haben für die Genitalien, Zeichen, Gebärden. Manche nutzen einen Talker, einen kleinen Sprachcomputer mit Bildern auf den Tasten oder ganzen Sätzen zur Sprachausgabe. „Wenn auf dem Talker Vulva, Vagina und Penis nicht eingearbeitet sind, und ein Jugendlicher oder eine Jugendliche will berichten, es hat mich jemand an den Genitalien angefasst, wie sollen sie das machen? Das geht dann nicht. Oder wenn das in der Familie sehr schamhaft ist, dann erklär’ ich den Eltern, warum es gut ist, über das Thema zu sprechen. Nur wenn Kinder Worte haben, können sie auch berichten. Wir haben mal einen Jugendlichen in der Jungsgruppe gehabt, der mit Talker kommuniziert hat und der ganz lang was eingetippt hat für meinem Kollegen, und am Ende kam raus: Er wollte, dass ihm jemand Worte für die Genitalien programmiert. Und dass ihm jemand ‚Fuck‘ programmiert. Er meinte: Ich will dazugehören, ich will das so gerne sagen. Die Erwachsenen wollen nicht, dass ich das einprogrammiere.
Das ist ein Minibeispiel, wie sexuelle Selbstbestimmung an vielen Punkten eingeschränkt ist und es niemandem auffällt. Und wenn wir das Thema nicht besprechen, dann können sich die Menschen darin weder fortbilden, noch ihre Lust entdecken. Das ist ein Teil meiner Arbeit in der sexuellen Bildung, zu vermitteln, dass Sexualität eine positive Lebensenergie ist. Dass auch für das Lustvolle ein Raum geschaffen wird. Etwas, was wahnsinnig bereichernd sein kann und wo alle Menschen das Recht haben, rauszufinden: Was ist für mich schön, mit wem will ich das leben, auf welche Art will ich das leben.“
familienplanungszentrum.de; elbe-werkstaetten.de
Information:
Das Familienplanungszentrum HH e. V. ist eine Schwangerenberatungsstelle mit einem breiten Angebotsspektrum rund um Körper, Partnerschaft, Liebe, Sexualität und Kinderwunsch. Die Elbe-Werkstätten bieten 3100 Menschen mit Behinderung einen Arbeitsplatz. Frauenbeauftragte sind gesetzliche Pflicht. Sie sind in den Werkstätten beschäftigt, vertreten die Interessen der dort beschäftigten Frauen gegenüber der Werkstattleitung. Schwerpunkte sind: Vereinbarkeit von Familie und Beschäftigung, Gleichstellung von Frauen und Männern sowie Schutz vor körperlicher, sexueller, psychischer Belästigung und Gewalt.
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