St. Pauli: Homophobie kennt auch der Kiez

Der 17. Mai ist der internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie. Dazu haben wir uns mal auf St. Pauli umgeschaut. Denn auch wenn der Stadtteil als weltoffen, bunt und schrill gilt, gibt es auch auf dem Kiez immer wieder Straftaten gegen sexuelle Orientierung. Und die Polizei geht von einer hohen Dunkelziffer aus
Der Hamburger Kiez: Bunt, weltoffen – und tolerant? (©unsplash/Michael Kucharski)
Der Hamburger Kiez: Bunt, weltoffen – und tolerant? (©unsplash/Michael Kucharski)

Eine Nacht Ende Oktober 2021. Der 24-jährige Lukas steht mit seinem Freund Max vor der Wunderbar in der Talstraße. Drinnen wird queer und herrlich schrill Halloween gefeiert. Die beiden wollen an der frischen Luft ein paar Minuten reden. Lachen. Nichts deutet auf das hin, was kommen soll, als sich eine Gruppe von fünf jungen Männern nähert. Kurz darauf prasseln Schläge auf Lukas und Max ein. Begleitet von hasserfüllten Worten. Ein homophober Übergriff mitten auf dem Hamburger Kiez. Der geilen Meile, die sich so gern offen, frei und tolerant gibt.

Nur selten werden Übergriffe angezeigt

Nur eine von 30 Straftaten gegen die sexuelle Orientierung, die 2021 in Hamburg aktenkundig wurden. Bundesweit lag die Zahl der Übergriffe laut Polizeistatistik aus besagtem Jahr bei knapp 800. Es ist ein offenes Geheimnis, dass nur ein Bruchteil derartiger Delikte überhaupt erfasst wird. Oft verzichten Opfer auf den Gang zur Polizei. Aus Scham. Oder weil sie sich keine Aufklärung erhoffen. Laut einer Studie der europäischen Agentur für Menschenrechte liegt das Dunkelfeld bei 90 Prozent. Diese Zahl bestätigen auch die LSBTI*-Beauftragten der Polizei Hamburg. Zeit, mal etwas genauer hinzuschauen.

Bundesweit ist der Ton wieder extremer geworden

Veuve Noire, Olivia-Jones-Familienbotschafterin

Denn der Angriff vor der Wunderbar ist keine Ausnahme. Immer wieder ist von derartigen Vorfällen rund um Reeperbahn und Große Freiheit zu hören. Für Schlagzeilen sorgte kürzlich das Urteil gegen einen der Täter. Der 22-Jährige Mann hatte sich für einen Angriff auf eine trans* Frau aus dem Juli 2021 zu verantworten. Ort des Geschehens: die Reeperbahn. Dort sollen die Worte „Scheiß Transe“ gefallen sein, bevor der junge Mann zugeschlagen haben soll. Das Opfer hatte einen Schädelbruch erlitten und war bewusstlos zu Boden gegangen. Das Jugendschöffengericht verurteilte den Täter zur Zahlung von 4.500 Euro Schmerzensgeld. Zudem muss er künftige Arztkosten für die Folgebehandlungen übernehmen, wenn die Versicherung nicht einspringt.

Zuletzt kam es Anfang Januar 2023 zu einem Übergriff, als ein 29-Jähriger und sein Freund von einem unbekannten Mann bespuckt und beleidigt worden sein sollen. Die Angegriffenen konnten sich in ein Lokal auf dem Kiez retten. Szenen, die Bilder aus Reality-Soaps konterkarieren. Bei RTL Zwei etwa sieht alles etwas anders aus. Dort läuft mit großem Erfolg eine Sendung mit dem Titel „Reeperbahn privat“. Der kumpelhaft-possierliche Koberer Fabian, Hure Laura, der Elbschlosskeller-Wirt und Dragqueens haben eine große Fangemeinde. Oft wird der große Zusammenhalt auf St. Pauli beschworen. Das Miteinander. Homophobie ist kaum Thema.

Nachhilfe in Toleranz auf St. Pauli

Veuve Noire führt bei einer Tour über den Kiez (©kult-kieztouren.de/Marius Röer)
Veuve Noire führt bei einer Tour über den Kiez (©kult-kieztouren.de/Marius Röer)

Wir sprechen mit Veuve Noire. Auch die Dragqueen ist zuweilen in der Serie zu sehen. Vor allem aber ist sie Familienbotschafterin von Olivia Jones und Aushängeschild des bundesweiten Projekts „Olivia macht Schule“. In Kitas, Schulen und Unternehmen ist Veuve unterwegs, gibt dort Nachhilfe in Toleranz. Da es auf dem Kiez zuletzt immer wieder homophobe Übergriffe gab, wollen wir von ihr wissen, woher diese Aggressionen noch immer kommen? „Auf der einen Seite gibt es mehr Offenheit denn je, aber es gibt auch eine dunkle Seite der Entwicklung.

Insgesamt ist bundesweit der Ton wieder extremer geworden und mit der Hetze gibt es auch überall leider wieder mehr Übergriffe als zum Beispiel noch vor Corona-Zeiten“, antwortet Veuve. Das erlebe sie auch beim Aufklärungsprojekt „Olivia macht Schule“, sie sei gerade erst wieder von der AfD angefeindet worden. Den schärferen Ton führt die Dragqueen auch auf die Erfahrungen in der Pandemie zurück: „Ich glaube, das Corona ingesamt sehr viel im Miteinander kaputt gemacht hat. Aber das bestätigt alles nur, wie wichtig es ist, aufzuklären.“

Schwul ist immer noch ein Schimpfwort, Diskriminierung findet immer noch statt 

Veuve Noire, Olivia-Jones-Familienbotschafterin

Werden vor allem verbale Angriffe gegen queere Menschen in Hamburg grad wieder salonfähig? „Mit verbalen Übergriffen hatten wir schon immer zu kämpfen, ich kann jetzt nicht unbedingt sagen, dass es salonfähig, schlechter oder besser geworden ist“, sagt Veuve. „Es gibt sie noch, das ist schlimm genug. Schwul ist immer noch ein Schimpfwort, Diskriminierung findet immer noch statt. Deswegen ist ein CSD auch so unwahrscheinlich wichtig.“ Für die Dragqueen vom Kiez steht fest, dass unsere Stadt im Vergleich zu anderen Städten schon immer vorn war, wenn es um Offenheit ging: „Hamburg war schon immer sehr divers und wird es immer bleiben. Nur blieb die Sichtbarkeit lange Zeit aus. Jetzt heißt es wieder, auf diese Vielfalt aufmerksam zu machen. Dafür ist jede Unterstützung der Stadt hilfreich.“

Wie steht’s um die Vielfalt im Fußball?

Am Millerntor setzt sich der FC St. Pauli für die Rechte queerer Menschen ein (©unsplash/Feelfarbig-Magazine)
Am Millerntor setzt sich der FC St. Pauli für die Rechte queerer Menschen ein (©unsplash/Feelfarbig-Magazine)

Geht es um die Zukunft wünscht sich Veuve Noir vor allem mehr Aufklärungsarbeit. „Damit wir irgendwann in einer Gesellschaft leben, in der Gendern, Pronomen, wer liebt wen und wer lebt wie nicht mehr thematisiert werden muss. Weil jeder diese selbstverständliche Vielfalt kennt, sie lebt und liebt.“ Ein Statement, das auch Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Die Grünen) sicher unterschreiben würde. „Wir müssen jede Art von Diskriminierung, Hass und Gewalt gegenüber queeren Menschen verurteilen“, sagt die Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung. Sie erkenne Fortschritt in allen gesellschaftlichen Bereichen, wenn es um Vielfalt gehe.

Der Kiez und Homophobie – da kommt auch Fußball ins Spiel. Der FC St. Pauli engagiert sich seit Jahren stark für die Rechte queerer Menschen, hat etwa in Zusammenarbeit mit der Protestorganisation Pinkstinks ein Regelwerk für das Stadion aufgelegt. Die Broschüre richtet sich in erster Linie an Werbepartner und Sponsoren des Vereins und definiert Merkmale sexistischer Werbung. Klub-Präsident Oke Göttlich betont stets, Zeichen gegen Ausgrenzung und Abwertung von Menschen senden zu wollen. So spielte der Club im August 2022 etwa in einem Sondertrikot. Mit Gendersternchen. Dergleichen kommt nicht überall gut an. Während des Gastspiels des Zweitligisten bei Hansa Rostock kam es eine Woche später zu einer Provokation. „Euer Gender-Scheiss interessiert in Wolgast keine Sau! Hier gibt es nur Jungs, Mädchen, Mann und Frau“ war auf einem Banner zu lesen. Dass in Sachen Vielfalt gerade in der Fußball-Fanszene noch reichlich Aufklärungsarbeit zu leisten ist, zeigte sich auch ein paar Kilometer vom Kiez entfernt, im Stadion des Stadtrivalen. Dort zeigten HSV-Fans ausgerechnet im ersten Spiel nach dem Tod von Ikone Uwe Seeler ebenfalls ein homophobes Banner. Der Verein distanzierte sich umgehend.

Unterstützung und Hilfe bei Homophobie und anderer Hasskriminalität

Doch zurück zu den Opfern vom Angriff vor der Wunderbar. Lukas und Max haben nach der Tat große Unterstützung erfahren. Sowohl von der queeren Community als auch von Seiten einiger Politiker, die das Gespräch suchten. Es gab einige Tage nach dem Übergriff sogar eine Demo. Die Täter konnten offenkundig nicht ermittelt werden, jedenfalls nicht alle. Die Beulen verheilten. Aber bei den Angegriffenen bleiben seelische Narben. Und die Gewissheit, dass Homophobie auch in einer sich aufgeklärt, weltoffen und tolerant gebenden Stadt wie Hamburg noch immer Realität ist. Sogar auf dem Kiez.

Hasskriminalität kann jederzeit bei der Polizei Hamburg angezeigt werden, auch online. Die  LSBTI*-Beauftragten vermitteln bei Bedarf zudem an eine Beratungsstelle, die umfassend in rechtlicher und psychologischer Hinsicht unterstützen kann. Kontakt: LSBTI@polizei.hamburg.de

Dieser Artikel ist zuerst im Divers(c)ity Magazin von SZENE HAMBURG erschienen.

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