Die Reihe „Stimme-X“ von Gründer Hans-Jörg Kapp zeigt ab 8.7. vier freie Produktionen. Auch das neue Stück von Regisseur Benjamin van Bebber. Ein Gespräch unter sechs Augen
SZENE HAMBURG: Hans-Jörg, Stimme X steht für neues Musiktheater für Hamburg. Was ist daran „neu“?
Hans-Jörg: Wir fördern Musiktheater, das zeitgenössisch ist. Stücke, die inhaltlich Bezug auf heutige Realitäten aufweisen. Denn klassische Opernstoffe gehören sowohl in der Anlage wie auch als Kompositionsvorgang nicht mehr in unsere Zeit.
Benjamin, es ist die zweite Ausgabe und du bist das zweite Mal dabei – guter Schnitt …
Benjamin: Ich habe mich jedes Mal beworben und wurde jedes Mal angenommen …
Hans-Jörg: Benjamin gehört zu den wenigen Musiktheaterregisseuren, die seit längerer Zeit mit nachhaltig hoher Qualität arbeiten.
Wie drückt sich diese Qualität für dich aus?
Hans-Jörg: Die Tiefe der Auseinandersetzung und die Durchdringung des Stoffes sowie die Fähigkeit des Künstlers dieses tatsächlich szenisch umsetzen zu können. Alle vier Inszenierungen, die im Rahmen von Stimme X produziert wurden, stehen für das große Potenzial, das die Freie Szene zu bieten hat.
Benjamin, deinen Inszenierungen liegen oft klassische Werke zugrunde, die du mit anderen Musikstilen wie Pop und Elektro mischst. Ist das der „neue“ Sound?
Benjamin: Das passiert gerade ganz viel, auch in den Staatstheatern. Bei der Oper frage ich mich immer, warum die eigentlich singen. Diese Frage stellt sich mir bei Popmusik nicht. Sie erzeugt einfach eine Stimmung, man hört sie zu Hause und kann mitsingen. Diese Alltagsfunktion von Musik ist niedrigschwelliger und erleichtert den Zugang zum Musiktheater.
Wie funktioniert das in deinem aktuellen Stück „Winterreise – Vorstudie für ein nomadisches Leben“?
Benjamin: Wir, Leo Hofmann und ich, haben aus Franz Schuberts Winterreise ein paar Stücke herausgefiltert, dekomponiert und mit Elektro-Samples neu zusammengesetzt. Anhand der Lieder nähern wir uns der Frage: „Was bedeutet es, ständig unterwegs zu sein?“ So wie ich als freier Künstler sind dies auch viele andere Menschen und trotzdem gilt das Sesshafte immer noch als das Normale. In Schuberts Winterreise wird das Unterwegssein als etwas sehr Leidendes interpretiert, was wir umdrehen – Weg von dieser Sehnsucht zur Statik, hin zu dem Bejahen von Veränderungen.
Widerspricht das nicht der menschlichen Natur?
Benjamin: Zumindest einer starken Tradition abendländischen Denkens. Es gibt asiatische Kulturen, in denen das Unterwegssein zur Lebensphilosophie gehört, weil man sich dadurch an nichts festhält. In unserer Gesellschaft ist Besitz und Eigentum eng mit der eigenen Identität verknüpft. Wenn man unterwegs sein will, muss man sich stark reduzieren. Daher auch unser Ansatz, dass alles, was wir für die Umsetzung des Stücks benötigen, in einen Rucksack passt.
Deshalb auch kleine Spielorte als Rahmen?
Benjamin: Musiktheater, kleinformatig gedacht, ist eine Qualität. Die großen Häuser verpflichten zur Opulenz, wodurch oft Feinheiten verloren gehen. Mir ist es vor allem wichtig, dass ein Kontakt entsteht und die Musik als Möglichkeit zur Kommunikation wahrgenommen wird.
Hans-Jörg: In der großen Staatsoper könnte auch eine Leinwand hängen, auf der irgendeine „La Traviata“-Inszenierung abgespult wird. Das Eins-zu-eins-Erlebnis findet gar nicht mehr statt.
Hamburg ist eine Musical-Metropole. Wie grenzt ihr Musiktheater vom Musical ab?
Benjamin: Inhaltliche Abgrenzungen sind gar nicht immer notwendig. Unterschiedlich sind eher die Haltungen dahinter, die bei den großen Musicals oft kommerziell sind. Das ist bei uns nicht der Fall, da wir sowieso auf Förderung arbeiten.
Hans-Jörg: Es gibt natürlich auch großartige Stücke wie „West Side Story“, das in seiner Zeit sehr aktuell war. Bei dem, was wir machen und wollen, setze ich auf Genre-Pluralismus. Die Stimme X-Jury hat kein Stück abgelehnt, nur, weil es nicht einem bestimmten Bild von Musiktheater entsprach. Alles ist möglich.
Hans-Jörg, du hast mal gesagt, ihr wollt mit Stimme X eine kritische Masse bilden. Wie meinst du das?
Hans-Jörg: Damit die Freie Szene spürbar in die Stadt hineinwirkt, muss sich eine größere Anzahl Künstler zusammentun. Nur eine gewisse Masse hat auch ein gewisses Gewicht. Dadurch würden zum Beispiel Gespräche mit den Behörden und Sponsoren einfacher werden. Denn oft scheitern wir an Kleinigkeiten, wie der Beschaffung von Notenständern – in einer Stadt, in der es Tausende in unzähligen Orchestern gibt. Zudem wäre die Präsenz der Szene in der Öffentlichkeit größer. Es fehlt einfach eine sichtbare Nachhaltigkeit in Form von Kontinuität der freien Inszenierungen. Das will Stimme X anschieben.
Interview: Hedda Bültmann
Foto: Daniel Feistenauer
Stimme X beginnt und endet im Lichthof Theater – die Stücke:
8.–9.7.: Winterreise. Vorstudie für ein nomadisches Leben, Tickets
14.8., LTE Babylon
2.9. Der neue Hubert Selby
16.10. STIMMImpressionen
Weitere Infos unter www.stimme-x.de
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