Thalia Premiere – Ein Panorama der Generationen

Matthias Günther ist der Dramaturg bei der Uraufführung von „Panikherz“ im Thalia Theater. Foto: Philipp Schmidt

Die Popliteratur hält mit „Panikherz“ Einzug auf der Bühne des Thalia Theater. Der Dramaturg Matthias Günther erzählt, warum das Buch es wert ist.

SZENE HAMBURG: „Panikherz“ als Popliteratur sticht im Premierenplan zwischen den Klassikern hervor. Wie kam es zu dieser Wahl?
Matthias Günther: Das war ein Vorschlag des Regisseurs Christopher Rüping und wir fanden die Idee gut. Der Roman von Benjamin Stuckrad-Barre hat einen starken Hamburg-Bezug. Ein wichtiger Teil seiner Stadterfahrung hat hier stattgefunden und war nach seinen Jugendjahren in der Provinz für seine persönliche Entwicklung eine wichtige Station. Zudem spielt Udo Lindenberg, der ja bekanntermaßen eine zentrale Größe in der Stadt ist, eine wichtige Rolle. Der Roman ist große Literatur, denn Stuckrad-Barre ist ein sehr beachtlicher Journalist, der sehr genau die Wirklichkeit, in der wir uns bewegen, mit einer großen Sprachwucht beschreibt.

Warum gerade Udo Lindenberg?
„Panikherz“ orientiert sich an der Schattenfigur Udo Lindenberg, weil es zum einen witzige Anekdoten sind, wenn er sich auf dessen Lieder in den jeweiligen Lebensphasen bezieht. Aber vor allem war es die Musik seiner Jugend, durch die er zum ersten Mal Zugriff auf die Welt bekam. Udo Lindenberg ist immer er selbst. Sein Ich und sein Image sind komplett verschmolzen, was für Stuckrad-Barre eine hochinteressante Konstruktion ist. Wie kann man ein Image entwerfen, das mit sich selbst identisch ist? Und das in einer Oberflächen-Kultur zu Spott führt. So wie seine Mutter in ganz frühen Jahren zu ihm sagte: „So haben wird dich nicht erzogen, zu so einer Oberflächlichkeit.“ Und damit meinte, da müsse doch mehr sein, als dass er davon träumt, mit einem neuen Nike-T-Shirt in der Schule auftrumpfen zu wollen.

Was meinen Sie mit Oberflächen-Kultur?
Stuckrad-Barres Bücher stehen ja für einen bestimmten Stil, die Popliteratur. Ein zentrales Kennzeichen dieses Genres ist das Hantieren mit Oberflächen. Böse gesagt, mit Oberflächlichkeit. Wie präsentiere ich mich? Was habe ich für ein Image und wie kann ich mein eigenes Ich immer wieder so formen, dass es ein leuchtendes Beispiel wird? An dieser Oberflächlichkeit arbeitet sich Stuckrad-Barre ab, durchlebt sie in der Gestalt als Popliterat. Bei dem Versuch aus seinem eigenen Leben ein Image zu kreieren, stößt er an Grenzen. Wodurch er, ähnlich wie viele Rockstars, nach der großen Karriere, nach den strahlenden Momenten, fürchterlich abstürzt. In eine Drogensucht und Bulimie, deren Krankheitssymptome schrecklich sind und die er in Panikherz schonungslos beschreibt. Die Kehrseite vom Ruhm und Ekstase zeigt sich bei ihm in einem kompletten Zusammenbruch.

Ist das die Kehrseite vom Ruhm oder die Folgen einer nicht erfüllten Sehnsucht?
Die Frage ist, was man in sich trägt. Bei ihm spielt sicherlich die Grundvoraussetzung, dass er unbedingt ins Scheinwerferlicht wollte, eine große Rolle. Und dafür ist er einen sehr graden aber erbarmungslosen Weg gegangen.

Welche Relevanz hat der Roman für die heutige Zeit?
Wir behaupten die kühne These, dass Stuckrad-Barres Literatur vielleicht in 200 Jahren die Bedeutung hat wie Goethe für uns heute. Das ist eine sehr kühne These, aber seine Literatur ist so stark, die Satzkonstruktionen brillant, und sie ist von unglaublicher literarischer Qualität. Durch die Genauigkeit mit der er Situationen beschreibt, versteht der Leser erst, dass der konstruierte Held seiner Biografie in einem Dauerdialog mit seinen Erinnerungen steht. Mit dem, was er einst in seiner Jugend war und was er heute ist. Als Stuckrad-Barre „Panikherz“ schreibt, ist er in keiner guten Verfassung. Er befindet sich in einem Hotel in Los Angeles und wird mit seinen Erinnerungen konfrontiert. Und wie er selber sagte, müsse man höllisch aufpassen, wenn man sich in die eigenen Erinnerungen hineinbegebe und sie dadurch zur Gegenwart werden. Das sei, als würde man einen Kampfhund kitzeln. Dadurch schreibt Stuckrad-Barre mit diesem Doppelblick – der Riss zwischen der individuellen Formulierung und der Bestimmtheit einer Gesellschaft, den große Literaten auszeichnet. Auch gibt es eine Verbindung zu Heinrich von Kleist, der ihm in dieser Ruhelosigkeit, sich nicht verorten und nicht wohnen zu können, sehr ähnlich war. Von Kleist rutschte ständig in Krisen, wusste nicht, wie es weitergeht und hatte keinenLebensplan. Und das zeigt Stuckrad-Barre für unsere heutige Zeit an der Figur Stuckrad-Barre.

Wie bringen Sie die vielen inneren Welten der Figur auf die Bühne?
Christopher Rüping stellt ein Ensemble auf die Bühne, das unterschiedliche Altersgruppen repräsentiert. Zum Beispiel beginnt das Stück mit der legendären Eingangsszene als Stuckrad-Barre und Udo Lindenberg am Flughafen in Amerika einreisen. Gesprochen wird dieser Textabschnitt von Sebastian Zimmler, Mitte dreißig, und Peter Maertens, der über achtzig Jahre alt ist. Diese Konstellation stellt nicht figürlich einen jungen und alten Mann dar, sondern eine jüngere und eine ältere Position. Es ist eine andere Form der Verbildlichung. Denn der Hauptdarsteller ist der Text, der unverändert geblieben ist, und in Verbindung mit den Stimmen und der Körperlichkeit der Schauspieler entsteht ein Panorama der Generationen. Der Text soll nicht in der Generation Stuckrad-Barre festgezurrt werden, denn seine Wucht ist altersübergreifend.

Was ist Ihre Aufgabe als Dramaturg?
Ich begleite diese Produktion beratend im Sinne von „Der alte Mann erzählt von früher“ (lacht). Ich bin zehn Jahre älter als Stuckrad-Barre und kenne die von ihm beschrieben Lebenswelten aus eigener Erfahrung – wie zum Beispiel die damalige Bedeutung von Udo Lindenberg. Oder die Passagen, in denen er beschreibt, wie sich für ihn die Welt öffnet, als er nach Jahren in der Provinz plötzlich in Göttingen überall die Plakate sieht, die Westernhagen, Grönemeyer und Kunze in der Eissporthalle Kassel ankündigen. Ich komme aus Kassel und kann mich noch genau daran erinnern. Zum anderen werde ich selbst als Pop-Dramaturg betitelt. Das heißt, ich befasse mich schon sehr lange mit der gleichen Fragestellung, die die Popliteratur umtreibt. Die Welten, in denen Stuckrad-Barre andockt, erzählen mir sofort was.

Interview: Hedda Bültmann 

Foto: Philipp Schmidt 

Thalia Theater, „Panikherz“, 17.3. (Premiere)


Februar-Ausgabe SZENE Hamburg

 Dieser Text ist ein Auszug aus SZENE HAMBURG, März 2018. Das Magazin ist seit dem 24. Februar 2018 im Handel und zeitlos in unserem Online Shop oder als ePaper erhältlich!
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