Tina Herrmann und Jens Birkholz betreten die Kampffläche im ersten Stock der Sporthalle des SV Eidelstedt am Redingskamp. Es ist still im Raum. Herrmann und Birkholz verneigen sich. Und dann geht es los! Anmutig, sehr geschmeidig und von einigen lauten kämpferischen Ausrufen untermalt führen beide eine Demonstration aus dem Repertoire ihrer Bewegungsformen vor. Mächtige Fußkicks in die Luft sind dabei, Handkantenschläge, geballte Fäuste. Mal scheinen beide Körper unter totaler Spannung zu stehen, im nächsten Moment wirken sie völlig ruhig und fließend. Nach der letzten Verneigung brandet großer Applaus auf. Die 15 Kinder der Eidelstedter Taekwondo-Abteilung zwischen sieben und 14 Jahren, die gerade ihren Vorbildern zusehen durften, sind beeindruckt.
Zur Taekwondo-WM nach Hongkong – ein Traum wird wahr
Knapp 9000 Kilometer vom Redingskamp entfernt wollte Tina Herrmann ebenfalls Eindruck machen. Auf die Punktrichter der vom 30. November bis zum 4. Dezember 2024 ausgetragenen Weltmeisterschaft im Taekwondo im Leistungsbereich Technik. Herrmann startete in Hongkong für Deutschland, wie 1200 andere Athletinnen und Athleten trat sie im Hong Cong Coloseum an. Im K.o.-System, bei dem pro Runde immer zwei Sportlerinnen ihre Poomsae (Bewegungsformen) vorführten und eine der beiden weiterkam. Der Lebenstraum der 44-Jährigen, die ihre Poomsae in der modernen Variante des Schattenboxens im Taekwondo so kraftvoll und poetisch ausführt, ging in Erfüllung. Doch Herrmann sagte vorher: „Den Moment meines Lebens hatte ich schon. Ich bin einfach nur dankbar, diese Weltmeisterschaft nun erleben zu dürfen. Sollte ich früh ausscheiden, wird mich das nicht brechen.“ Am Ende reiste sie als WM-Fünfte nach Hause.
Herrmanns Geschichte handelt – und das liegt auch am Wesen des Taekwondo – von einer persönlichen Entwicklung, die eng mit dem Sport verknüpft ist. Und doch über ihn hinausweist. Die gebürtige Bremerin findet durch ihre Eltern zum Taekwondo. In Korea ist die Kampfkunst ein Volkssport, Herrmanns Mutter ist Koreanerin. „Mein Vater hat die Herkunft meiner Mutter angeführt und ein bisschen auf die Tränendrüse gedrückt. Deshalb nahm ein Verein in Bremen meinen Bruder und mich auf, bei dem der Taekwondo-Kurs eigentlich schon voll war“, erinnert sie sich schmunzelnd.
Tina Herrmanns Karriere beginnt mit neun Jahren
Mit neun Jahren fängt Herrmann an. Aus Furcht vor Verletzungen spezialisiert sie sich bald auf den Bereich Technik. Mit 16 Jahren lernt sie auf ihrer ersten Reise zu einer Turnierreihe mit der deutschen Nationalmannschaft nach London die sechs Jahre ältere Roya Afshar kennen. Sie verstehen sich prächtig und trainieren zusammen. Bald stößt Isabell Brokmann dazu. „Wir haben unser Training auf VHS-Videokassetten aufgenommen und fanden: Das sieht ja gar nicht so doof aus“, sagt Afshar lächelnd beim Blick zurück. Also treten Herrmann, Afshar und Brokmann 1999 im Synchron-Wettbewerb der Europameisterschaft im Poomsae-Taekwondo im dänischen Kolding an. Sie holen im Leistungsbereich Technik Gold. „Das war mein schönster sportlicher Moment“, sagt Herrmann.
Nun folgt eine Phase, in der Titel ihren Weg pflastern. Der Kreis um sie, Afshar und Brokmann wird etwas größer. Unter anderem stößt der heute dreifache Europameister Jens Birkholz dazu. Trotz unterschiedlicher Wohnorte im Norden wird oft gemeinsam trainiert, viel gelacht, Freundschaften fürs Leben finden sich. Herrmann gewinnt deutsche Meisterschaften im Einzel, Paar, Synchron und Mixed, holt mit ihren Partnern und Partnerinnen 2001 in Garmisch-Partenkirchen Gold im Synchron und im Mixed. Sie siegt bei hochrangigen internationalen Turnieren. Sportlich winkt ihr im Jahr 2007 die Krönung ihrer Laufbahn: die Teilnahme an der ersten Poomsae-Taekwondo-Weltmeisterschaft überhaupt, die im südkoreanischen Incheon, der Geburtsstadt ihrer Mutter, ausgetragen wird. Doch Herrmann qualifiziert sich nicht. „Das hat meinem sportlichen Herzen sehr lange Zeit sehr weh getan“, sagt sie heute.
Die Geburt ihres Sohnes verschiebt Tina Hermanns Fokus
Und sie sagt, sie habe nicht deswegen damals mit Taekwondo aufgehört. Sie habe einfach etwas Abstand gebraucht, um sich anderen Dingen in ihrem Leben zu widmen. 2013 kehrt sie kurz zurück, gewinnt mit Jens Birkholz die German Open. 2014 wird ihr Sohn geboren. „Das war der schönste Moment meines Lebens“, sagt Herrmann.
Es ist auch der Moment, in dem sich bei ihr etwas löst. Das Muttersein verschiebt ihren Fokus, der sportliche Erfolg hat nicht mehr den Stellenwert wie zuvor. Beim Taekwondo geht es ja mitnichten nur darum, sich eine gute Note der Punktrichter für die Technik und die Präsentation zu sichern. Es geht auch um das Do, den sogenannten geistigen Weg. „Auf der Fläche erzählt man mit seiner Darbietung immer eine Geschichte. Man zeigt einen Teil von sich selbst“, sagt Herrmann. „Es ist wie bei zwei Schauspielerinnen. Sie können denselben Text sprechen und trotzdem tun sie es auf eine andere Weise und sie wirken dabei auf ihr Publikum auch ganz anders. Die eine erzeugt ein Kribbeln, die andere nicht“, erklärt Roya Afshar.
Auf der Fläche erzählt man mit seiner Darbietung immer eine Geschichte
Tina Herrmann
Zurück zum intensiven Taekwondo-Training
Tina Herrmann jedenfalls kommt mit der Geburt ihres Sohnes in ihrer Mitte an. Mittlerweile ist sie nach Hamburg gezogen, tritt in den 8000 Mitglieder starken SV Eidelstedt (1000 Mitglieder in der Kampfsportabteilung) ein. 2021 überlegt sie sich, ob sie nicht doch noch versuchen will, sich ihren Traum von einer WM-Teilnahme zu erfüllen. Auf eine ruhigere und gelassenere Art als zuvor. Eidelstedts Abteilungsleiterin Alida Rigoll (47) bestärkt sie ebenso wie Roya Afshar, die ebenfalls beim SV Eidelstedt Mitglied ist. Rigoll wird Herrmanns Athletiktrainerin, Afshar die Mentaltrainerin. Herrmann gibt Training im Verein. Der SVE unterstützt sie dafür bei ihren Fahrten zu internationalen Turnieren.
Herrmann nimmt das intensive Training wieder auf. In dem Wissen, dass die es viel besser verkraften kann, wenn sie die QM-Qualifikation nicht schafft. Fühlt sie sich 2023 auf der Fläche bei der Europameisterschaft noch „ganz klein und verloren“, wird 2024 zu ihrem erfolgreichsten Jahr bei der internationalen Tourserie. Bei Turnieren in Österreich, Wien, Dänemark und in Bulgarien wird sie zweimal Erste, zweimal Zweite. Wo immer sie antritt, ist sie vorne dabei. Im September ist es so weit: Bundestrainer Marcus Ketteniß nominiert Tina Herrmann für die Weltmeisterschaft in Hongkong.
„Ich bin Roya und Alida so dankbar. Ich wäre diesen Weg ohne sie nie gegangen“, sagt sie. „Roya hat mir sehr analytisch, mit viel wichtiger Kopfarbeit eine unglaubliche mentale Stabilität vermittelt und Alida hat mir im Fitnessbereich mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung extrem geholfen.“ Rigoll wiederum lobt Herrmann als „Ausnahmesportlerin, die nun da ist, wo sie hingehört. Bei der WM. Tina lebt sehr achtsam das Do unseres Sports.“ Und Afshar ergänzt: „Ich habe noch nie eine so experimentierfreudige und offene Sportlerin erlebt, die mental so stark ist.“
Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 12/2024 erschienen.