SZENE HAMBURG: Dirk, wir befinden uns in düsteren Zeiten, blickt man auf die Lage hierzulande sowie weltweit. Sind es auch Zeiten, die dich als Songschreiber besonders anstacheln, also welche, die dich textlich aktiver werden lassen als manch andere?
Dirk von Lowtzow: Die Zeitläufte verändern sich rasant. Es wäre sehr schwierig, darauf mit Liedern, deren Schreib- und Produktionsprozesse dann doch eher langwieriger Natur sind, zu antworten. Das kann der Journalismus besser. Was heute inhaltlich noch zutreffend wäre, könnte morgen unter Umständen schon nicht mehr gelten. Aber es gibt sicherlich politische Momente, die Impulse setzen können: Unser Lied „Denn sie wissen, was sie tun“ entstand im Sommer 2023, als die Umfrageergebnisse der AfD erstmals über 20 Prozent lagen – als direkte empörte Reaktion darauf.
Das Stück stammt aus eurem kürzlich erschienenen neuen Album „Golden Years“. Die Rechten werden darin durch Küsse auf ihre Münder bekämpft, nicht durch Gewalt. Mal zur Stimmung des Autors: Gelingt es dir, in den angesprochenen Zeiten ruhig und bedacht zu bleiben und dich nicht in tiefer Enttäuschung oder gar Wut zu verlieren?
Wut kann ein guter Impuls sein, ein Lied zu schreiben, so wie ich es für „Denn sie wissen, was sie tun“ beschrieben habe. Sie wirkt dann wie ein Koffeinkick. Für den langfristigen politischen Kampf, der in Zukunft bitter nötig sein wird, halte ich sie eher für ungünstig, denn sie hat eine kurze Halbwertszeit. Hier würde ich eher auf Strategie und Entschlossenheit setzen. Wenn man jemanden auf den Mund küsst und ihm so die Luft zum Atmen oder zur Verbreitung von menschenfeindlicher Hetze raubt, ist das eine Form von poetischer Drastik, die uns näher ist als männliche Muskelpanzerrhetorik. Innere unauflösbare Widersprüche sollten in Protestsongs immer mitverhandelt werden.
Musik ist für den Sänger keine Therapie, aber sie hat etwas Trötendes
Kann dich Kunst, also selbst gemachte, auch beruhigen? Das Schreiben, das Musikmachen, das Auftreten?
Nein, leider ganz und gar nicht. Die Kunst, die wir machen, entsteht immer aus innerer Unruhe. Ich glaube übrigens auch nicht, dass Schreiben oder Malen therapeutisch sein können, auch wenn das oft behauptet wird. Wenn dies so wäre, wären weniger Musiker oder Künstlerinnen in Behandlung. Aber es liegt etwas Tröstendes im gemeinsamen Musizieren, dieser kollektiven Übung des Surfens auf Schallwellen.
Du sprachst eben von einem „langfristigen politischen Kampf, der in Zukunft bitter nötig sein wird“. Empfindest du es auch als eine Künstlerpflicht, sich in Lagen wie der aktuellen dazu zu äußern, etwa in Songs und öffentlichen Ansagen?
Nein, ich persönlich bin gegen jegliche Form von Bekenntniszwang. Aber ich glaube, dass es nicht schaden kann, wenn man als Künstler:in die Verantwortung, die eine gesteigerte Öffentlichkeit mit sich bringt, annimmt. Zumal in dieser Jetztzeit der Monster. Wir haben uns als Band mehrfach für ein AfD-Verbotsverfahren ausgesprochen. Hier wird noch viel zu zögerlich vorgegangen, es sind noch nicht alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft. Das meine ich mit Langfristigkeit und politischer Entschlossenheit.
Tocotronic-Frontmann zur Zukunft der Welt
Es ist nicht lange her, da lobte Jan Müller in einem Interview mit SZENE HAMBURG deine Sensorik: „Dirk von Tocotronic hat ein Talent dafür, immer ein wenig früher Sachen zu kommentieren, als sie passieren.“ Bei dem attestierten Zukunftsgespür: Wird die Welt irgendwann eine bessere sein und Protestsongs von dir womöglich nicht mehr nötig – oder kommt alles noch schlimmer?
Ich freue mich sehr über Jans Kompliment. Ich glaube, man braucht als Songschreiber:in schon eine gewisse Porösität, durch die die Gegenwart – und vielleicht auch die nahe Zukunft – in den Körper einsickern können. Aber ich bin leider kein Orakel. Wir haben auf dem neuen Album ein Lied, das „Bleib am Leben“ heißt. Das scheint mir im Augenblick noch die passendste Losung zu sein.
Dieses Interview ist in SZENE HAMBURG 04/2025 erschienen.