Seit 2003 kämpft der Verein Hamburg Pride gegen Vorurteile und Diskriminierungen gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen und füreine rechtliche Gleichstellung in allen Bereichen. Die Co-Vorsitzenden Nicole Schaening und Christoph Kahrmann über die Notwendigkeit der Pride Week, die Pläne für 2022 und was die Stadt dringend für mehr Diversität tun muss
Interview: Ilona Lütje
SZENE HAMBURG: Nicole Schaening und Christoph Kahrmann, 42 Jahre CSD – wozu braucht es eine Pride Week auch heute noch?
Nicole Schaening und Christoph Kahrmann: Ganz einfach: Wir sind in Sachen Akzeptanz von LGBTIQ+ in der Gesellschaft noch nicht am Ziel. Natürlich hat sich die Gesamtsituation für queere Menschen in der Bundesrepublik verbessert, trotzdem gibt es noch viele Vorurteile und leider auch vermehrt queerfeindliche Angriffe, das heißt körperliche Angriffe und Beleidigungen gegenüber queeren Menschen. Von Teilen der Gesellschaft werden LGBTIQ+ noch nicht als gleichberechtigt akzeptiert, und die Pride Week und der CSD schaffen Sichtbarkeit.
Auch die Politik ist gefragt: Wir fordern zum Beispiel, dass Artikel 3 des Grundgesetzes endlich um die Merkmale „sexuelle und geschlechtliche Identität“ ergänzt und dass das Transsexuellengesetz abgeschafft wird. Auch international ist vieles zu tun: Es gibt ja immer noch Länder, in denen queeren Menschen die Todesstrafe droht. Wir finden: Nur wenn man die gesellschaftlichen Probleme aufzeigt, lässt sich aktiv etwas dagegen unternehmen. Verschweigen führt zu ignorieren.
Zwei Jahre Fahrraddemo, weniger Kommerz, weniger Party – tat das dem CSD vielleicht sogar gut?
Auf jeden Fall tat es der LGBTIQ+-Community gut, dass trotz Corona ein CSD stattfinden konnte! Wir haben gezeigt, dass wir auch innerhalb kurzer Zeit eine Demo auf die Beine stellen können. Tatsächlich hat der rollende CSD 2021 die Teilnehmer:innen knapp 17 Kilometer durch die Stadt geführt – und damit auch in Stadtteilen Sichtbarkeit demonstriert, in denen die queere Community sonst kaum stattfindet. 2022 möchten wir – wenn Corona dies zulässt – wieder eine reguläre CSD-Demo organisieren.
Wie sieht es in diesem Jahr aus? Welche Pläne gibt es und welches Motto habt ihr?
Wir haben sehr große Pläne: Wir eröffnen die Pride Week am 30. Juli mit der feierlichen Pride Night auf Kampnagel. Es wird auch wieder das Pride House auf St. Georg mit vielen Veranstaltungen und Austauschmöglichkeiten zwischen Community, Stiftungen und Politik geben.
Der Höhepunkt ist dann natürlich die CSD-Demo am 6. August. Dafür planen wir eine reguläre Demo, mit vielen Zehntausend Teilnehmer:innen, politischen Botschaften und auch Trucks.
Das Motto lautet diesmal: „Auf die Straße! Vielfalt statt Gewalt.“ Ein kraftvolles Motto, das auf die Probleme in Hamburg und bundesweit aufmerksam macht: Im vergangenen Jahr kam es zu mehreren queerfeindlichen Angriffen, darunter auch an der Reeperbahn auf dem Kiez, also in sogenannten vermeintlich sicheren Räumen für queere Menschen.
Wir wollen uns damit nicht nur mit den Opfern von Hasskriminalität solidarisieren, sondern auch ein höheres Problembewusstsein von Seiten städtischer Behörden einfordern. Unsere Botschaft: Vielfalt ist für jede Gesellschaft immer ein Gewinn.
„Vielfalt und die Akzeptanz von LGBTIQ+ ist das ganze Jahr über unser Herzensthema“
Wie kann Hamburg Pride der Community auch außerhalb der Pride Week zur Seite stehen?
Vielfalt und die Akzeptanz von LGBTIQ+ ist das ganze Jahr über unser Herzensthema, nicht nur während der Pride Week. Wir sind permanent mit Politik, Stiftungen und Unternehmen zu queeren Themen in Austausch und vernetzen innerhalb der Hamburger Community. Und wir unterstützen auch Aktionen abseits der Pride Week: Im November haben wir uns zum Beispiel an der Aktion „Der Kiez ist bunt“ auf der Reeperbahn als Reaktion auf eine Reihe von queerfeindlichen Angriffen beteiligt.
Daneben fördern wir jedes Jahr mehrere Projekte der queeren Community, zuletzt eine queere Tanzperformance und den Dyke*March. Natürlich nutzen wir auch unsere Social-Media-Kanäle, um die Community über lokale und bundesweite Entwicklungen – etwa Gesetzgebung, Hasskriminalität, Aktionstage – zu informieren.
Was macht Corona mit der queeren Community? Sinken mit der Präsenz auch die Toleranz in der Gesellschaft sowie Mut, Selbstbewusstsein und Stolz in der queeren Community?
Corona stellt die queere Community – wie andere Gesellschaftsschichten auch – vor große Herausforderungen. Die LGBTIQ+-Szene lebt davon, sich zu treffen, auszutauschen. Gerade Massenveranstaltungen wie der CSD, aber auch Jugendtreffs, kulturelle Veranstaltungen, persönliche Beratungen, Gesprächsgruppen oder ein lockeres Treffen auf ein gemeinsames Bier konnten und können nur sehr eingeschränkt stattfinden.
Dieses Zusammenkommen spielt für das Selbstverständnis vieler queerer Menschen eine Riesenrolle, denn sie vermitteln: Wir queere Menschen entsprechen vielleicht nicht der heteronormativen Mehrheit, aber niemand ist allein, wir sind viele, und wir gehören zusammen. Wenn diese Treffen wegfallen und man nur noch alleine zu Hause rumsitzt, kann das natürlich auf das Selbstbewusstsein, gerade jüngerer queerer Menschen, drücken. Langfristig gesehen ist auch zu befürchten, dass eine geringere Sichtbarkeit der LGBTIQ+-Szene mit steigender Intoleranz einhergeht.
„Hamburg steht in Sachen Diversity grundsätzlich gut da“
Wie zufrieden seid ihr mit dem Feedback aus der Politik? Bewegt der CSD etwas?
Der CSD – und damit meinen wir bundesweit – trägt entscheidend dazu bei, Diskriminierung, Ungerechtigkeiten und Unrecht in Bezug auf die LGBTIQ+-Community in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Die CSD-Bewegungen sind mittlerweile so groß und erscheinen in nahezu sämtlichen Nachrichtenformaten, dass die Politik sich nicht davor wegducken kann.
Ein Beispiel ist die 2015 eingeführte Ehe für alle: Die Eheöffnung für gleichgeschlechtliche Paare wurde auch auf öffentlichen Druck hin, also auf Druck von der Straße, verabschiedet. Trotzdem sind wir natürlich nicht am Ziel.
Wie gut ist Hamburg denn in Sachen Diversity und wo seht ihr noch Luft nach oben?
Hamburg steht in Sachen Diversity grundsätzlich gut da, keine Frage. Das Klima ist mehrheitlich sehr offen und von Akzeptanz geprägt. Trotzdem sehen wir in den sozialen Medien immer wieder diskriminierende, abwertende Kommentare, wenn es um queere Themen geht. Daran müssen wir noch arbeiten. Beleidigende Kommentare dürfen nicht hingenommen werden und da sind wir alle gefordert, unseren Beitrag dazu zu leisten – auch die heteronormative Mehrheit.
Natürlich freuen wir uns, dass Behörden während der Pride Week die Regenbogenfahne hissen und dass sich Politiker:innen auf dem CSD zeigen, aber die Politik muss sich daran messen, was konkret an Unterstützung geleistet wird. Und da gibt es noch Luft nach oben, zum Beispiel bei der Finanzierung von queeren Projekten wie Hilfsangeboten und Beratungsstellen.