Als Titelfigur in „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ nach dem Roman von Thomas Mann wird der Schweizer Schauspieler Flavio Kiener am Altonaer Theater zum Spiegel einer Gesellschaft, die betrogen werden möchte
Interview: Sören Ingwersen
SZENE HAMBURG: Im September ist die neue Verfilmung der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ im Kino angelaufen, und nun kommt der Stoff auf die Bühne des Altonaer Theaters. Dabei reicht die Tradition der Schelmenfiguren von Till Eulenspiegel bis zu dem realen Hochstapler Frank Abagnale, den Leonardo Di Caprio 2002 in der Spielberg-Komödie „Catch Me If You Can“ verkörperte. Worin besteht der Reiz dieser Figuren, die andere Menschen austricksen und hinters Licht führen?
Flavio Kiener: Führt Felix Krull wirklich andere Menschen hinters Licht? Auch der Begriff Hochstapler klingt für mich zu negativ. Felix will nur aus seiner Welt, seinen engen Familienstrukturen ausbrechen. Er fühlt sich dort nicht zugehörig und zu etwas Besserem erwählt. Er reitet dann auf einer Welle von Begebenheiten und Möglichkeiten, die von außen an ihn herangetragen werden. Andere Menschen kommen auf ihn zu, weil sie etwas von ihm wollen und nicht umgekehrt. Felix nutzt die Gelegenheiten für sich aus, richtet dabei aber keinen großen Schaden an. Daher ist er für mich eine sympathische Figur.
Demnach ist Felix ein Spiegel der Gesellschaft, indem er zum Erfüllungsgehilfen dessen wird, was die anderen sich wünschen?
Er ist eine Projektionsfläche für das, was andere in ihm sehen. Oder wie sie durch ihn sich selber sehen. Man kann ihn fast beneiden: Er tritt auf, und sofort sind alle von ihm angetan. Da gibt es ein Verlangen nach körperlicher Nähe, aber auch emotionalem und intellektuellem Austausch.
Felix Krull, fast ein Schauspieler im realen Leben
Ist Krull ein Schauspieler im realen Leben?
Er beobachtet, wie die Menschen sich in höheren Gesellschaftsschichten verhalten, und übernimmt zunächst eine Rolle. Danach verwandelt er sich aber in neue Person und wechselt seine Identität. Darin besteht ein Unterschied zu dem, was wir als Darsteller tun, nämlich bloße Behauptungen aufstellen.
Ist es nicht ein urmenschliches Verlangen, einmal jemand anders sein zu wollen?
Als Schauspieler ganz bestimmt. Aber all die Erfahrungen, die man gesammelt hat und die einen ausmachen, legt man dabei nicht einfach ab. Krull versucht zwar, das alte Ich, das „ungültige Dasein“, wie er es nennt, abzulegen, merkt aber, dass es schwierig ist, nur noch als Marquis durch die Welt zu ziehen.
Der Wunsch auszubrechen
Wenn Felix nur das ist, was die anderen aus ihm machen, ist er doch eigentlich eine tragische Figur, die niemals zu sich selbst findet …
Total. Wenn Felix denkt, dass er etwas Besseres ist, heißt das ja auch, dass er in seinem alten Leben keinen Anschluss findet. Er hat keine Freunde, keine emotionale Bindung an die Familie. Deshalb ist sein Wunsch auszubrechen so groß. Aber nie das sein zu können, was man wirklich ist – das ist natürlich furchtbar tragisch.
Ist dieses Gefühl nicht sehr zeitgemäß? Leben wir nicht in einem Zeitalter, wo Identitäten infrage gestellt werden und die Selbstdarstellung eine große Rolle spielt?
Auf jeden Fall. So gesehen ist das eine sehr moderne Geschichte. Auch klassische Rollenverhältnisse werden von Thomas Mann infrage gestellt, etwa wenn die wesentlich ältere Madame Houpflé den jungen Felix verführt.
Kann man da nicht schon von Prostitution sprechen, wenn Felix als Liftboy gegen Bezahlung mit weiblichen Gästen des Nobelhotels ins Bett geht?
Das ist eine der Szenen, die häufig auf unserem Probenplan stehen, weil wir noch herausfinden wollen, wie viel Lust dabei von Felix’ Seite mit im Spiel ist. Warum lässt er sich auf eine solche Sache ein – wobei er ja auch seine Grenzen kennt?
Eine außergewöhnliche Umsetzung
Wie geht ihr damit um, dass der Stoff ursprünglich kein dialogisches Theaterstück, sondern ein Roman ist?
Wir spielen eine Theaterfassung von John von Düffel. Am Anfang wird viel im Rückblick erzählt, aber je weiter das Stück fortschreitet, desto dialogischer wird es. Felix zieht ja ständig das Begehren der anderen auf sich. Da ist das Spiel der anderen dann die treibende Kraft.
Treibende Kraft in Georg Münzels Inszenierung sind ja auch oft die schnellen Schnitte beziehungsweise Szenenwechsel, wie in „Absolute Giganten“, wo du den Floyd gespielt hast. Können wir bei „Felix Krull“ Ähnliches erwarten?
Zum Teil. Es wird auf jeden Fall eine außergewöhnliche Umsetzung. Wir spielen viele Szenen in unterschiedlich großen Bilderrahmen, wobei sich das Spiel dann überbordend aus den Rahmen herausbewegt. Auch die Kostüme sind sehr besonders …
Auf den ersten Blick wirkt der Roman „Felix Krull“ viel weniger komplex als vieles was Thomas Mann zu Papier gebracht hat. Man denke an den „Zauberberg“ oder den „Doktor Faustus“. Warum hat er sich trotzdem ein Leben lang mit diesem Stoff beschäftigt?
In diesem Roman steckt viel Autobiografisches. Ich glaube, dass Mann bis an sein Lebensende nach seiner eigenen Identität gesucht und sich immer wieder die Frage gestellt hat, wie viel er von seiner Homosexualität ausleben darf. Spannend wäre zu wissen, wie die Geschichte weitergehen sollte. Der Roman ist ja Fragment geblieben.
Das heißt, von Düffel hat das Ende ebenfalls offengelassen?
Bei ihm wird es zum Ende hin sehr anarchisch und chaotisch. Das übernehmen wir. Aber es gibt noch Spielraum für ein konkretes Ende.
„Sein Inneres wird ausgewaschen und neu gefüllt“
Was reizt dich persönlich an der Rolle des Krull?
Das ist eine Figur, wie ich sie noch nie gespielt habe und die man sich durch ein sehr feines Spiel erschließen muss. Das absurde Spiel mit großen Gesten, das sonst eher meine Sache ist, kommt diesmal von den anderen Figuren. Außerdem spiele ich erstmals eine Figur, die deutlich jünger ist als ich. Auch das finde ich spannend.
Du sagtest, dass Felix Krull auf der Suche nach seinem Platz in der Gesellschaft ist. Siehst du eine Parallele zwischen dieser Figur und der des Floyd, die du in „Absolute Giganten“ gespielt hast? Floyd heuert ja als Seemann an und will seine Heimatstadt Hamburg verlassen.
Da gibt es tatsächlich Gemeinsamkeiten, was das Gefühl anbelangt, nicht dazuzugehören und sein Glück woanders versuchen zu wollen. Aber bei Felix handelt es sich um mehr als einen bloßen Tapetenwechsel. Sein Inneres wird regelrecht ausgewaschen und neu gefüllt.
Vom Wochenmarkt zurück auf die Bühne
Felix Krull ist die erste Rolle, die du nach dem Shutdown übernommen hast. Wie hast du die Corona-Zeit überstanden? Ich habe gelesen, du hast Käse verkauft …
Der erste Lockdown kam einen Tag vor der Premiere von Meyerhoffs „Alle Toten fliegen hoch – Amerika“. Das scheint ewig lange her. Andererseits kommt es mir nur wie ein Monat vor, weil inzwischen so viel passiert ist: Meine zweite Tochter wurde geboren, und ich bin jetzt Verkäufer auf dem Wochenmarkt. Die Leute mögen die Geschichte von dem Schauspieler im Lockdown, der Schweizer Käse verkauft. Sie fiebern mit und hoffen, dass es mit der Kultur weitergeht. Aber nur ein bisschen, damit es auch morgen noch Käse gibt. (lacht)
Das heißt, deine Kunden kennen deine Geschichte?
Die meisten. Ich glaube, von denen kommen jetzt auch viele ins Theater, um sich den Käseverkäufer einmal auf der Bühne anzugucken.
„Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, Altonaer Theater, 9.–13., 17.–20., 24.–27. November
SZENE HAMBURG Stadtmagazin, November 2021. Das Magazin ist seit dem 28. Oktober 2021 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!