Mit Anna Calvis und Robert Wilsons Rockoper „Der Sandmann“ nach der gleichnamigen Schauermär von E. T. A. Hoffmann inszeniert Charlotte Sprenger erstmals für die große Bühne im Thalia Theater
Interview: Sören Ingwersen
SZENE HAMBURG: Charlotte, nach den Inszenierungen „Vor dem Fest“, „Opening Night“ und „Die Politiker“ am Thalia in der Gaußstraße hast du dir für deine erste Inszenierung auf der großen Bühne am Alstertor E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“ ausgesucht. Warum?
Charlotte Sprenger: Den Stoff habe ich schon lange im Kopf, weil ich als Jugendliche ein großer Romantikfan war. Auch die Musiker Philipp Plessmann und Nick MCCarthy, mit denen ich in der Produktion zusammenarbeite, lieben die Erzählung schon seit ihrer Jugendzeit. Ich denke es liegt an der Dramatik und den extremen Gefühlen. Intendant Joachim Lux hat mir die Bühnenfassung der Robert-Wilson-Inszenierung mit den Songs von Anna Calvi zugeschickt und mich gefragt, ob es mich interessieren würde, eine eigene Version daraus zu machen. Ich habe mich dann gemeinsam mit den Musikern mit den Songs beschäftigt. Die haben uns so gut gefallen, dass ich zugesagt habe.
Ist „Der Sandmann“ deine erste Arbeit im Bereich des Musiktheaters?
Musik hat in allen meinen Arbeiten eine große Bedeutung und spielt auch in meinem Leben eine wichtige Rolle. Ich habe schon als Kind und Jugendliche viel musiziert. In der aktuellen Produktion steht sie aber besonders im Fokus, und ich arbeite das erste Mal mit einer Band auf der Bühne. Das war eine große Herausforderung. Philipp hat die Songs komplett neu arrangiert. Die Solo-Lieder und Duette des Originals singen wir jetzt größtenteils als Ensemble.
„Mich interessiert die Verbindung des Alltäglichen mit dem Schrecklichen“
Knapp zusammengefasst geht es im „Sandmann“ um den Einbruch des Wahnsinns in eine vermeintlich gesicherte Realität …
Es geht um einen jungen Mann, Nathanael, der sein Trauma verarbeitet. Dabei vermischt sich die Realität mit der Welt des Traums beziehungsweise Albtraums. Das war damals sehr revolutionär. Filmregisseure wie David Lynch sagen, dass E. T. A. Hoffmann ihre Arbeit maßgeblich geprägt hat. Mich selbst interessiert die Verbindung des Alltäglichen mit dem Schrecklichen. Für den betroffenen Menschen, den andere als krank bezeichnen, weil er die Welt anders wahrnimmt, ist diese Welt sehr real.
„Wenn das Theater Menschen zeigt, die an der Welt scheitern, fühlt man sich weniger alleine.“
Charlotte Sprenger
Was sieht man auf der Bühne?
Unsere Bühne von Aleksandra Pavlović ist ein absurdes Restaurant. Es ist ein an die Realität angebundener Ort, der aber zugleich auch eine Metapher für Nathanaels Innenleben ist. Dort begegnet er einem Kellner, dem er die Geschichte seiner Kindheit erzählt, und gegenüber dem er im Laufe des Abends eine Art Psychose entwickelt, er hält ihn für den gruseligen Sandmann aus seiner Kindheit, wodurch sich seine Realität mehr und mehr auflöst.
„Der Druck zu funktionieren hat sich ins Unermessliche gesteigert“
Ist diese Begegnung nur Ausdruck seiner wahnhaften Fantasie?
Es wäre eine Anmaßung, das zu entscheiden. Es geht hier ja um ein unauflösbares Problem. Wie viel von dem, was wir sagen, resultiert aus den eigenen Ängsten, Wünschen und Hoffnungen, die wir auf andere Menschen projizieren. Wenn Menschen sich über Verhaltensweisen anderer aufregen, die sie wütend machen, sind es interessanterweise fast immer Dinge, die sie auch an sich selbst bemerken.
Da fängt das Verrücktsein, die Verschiebung der Realität schon an. E. T. A. Hoffmann war neben seinen Berufen als Autor und Komponist auch Jurist und hatte für seine Zeit eine sehr liberale, fortschrittliche Haltung. Da er im „Sandmann“ so viel Empathie für den verrückten Nathanael zeigt, könnte man glauben, er hielte „Verrückte“ für nicht schuldfähig. Aber ein Mann, der seine Frau im Wahn umgebracht hatte, wurde von ihm als schuldfähig eingestuft, weil das Verrücktsein für Hoffmann zum Menschsein dazugehörte. Das ist auch der Ausgangspunkt meiner Inszenierung. Ich liebe das Wort „verrückt“. Etwas zu verrücken, ist ja eigentlich gut.
Aber Nathanael leidet sehr unter den Erscheinungen, die ihn heimsuchen …
… was aber eher auch an seiner Umgebung liegt, da ihm niemand glaubt. Ist der Wahn tatsächlich etwas Selbstverschuldetes? Wir leben in einer Welt, in der man ständig das Gefühl hat, an allem selbst schuld zu sein. Unsere Welt würde sich sehr zum Positiven verändern, wenn wir Menschen, die nicht voll funktionsfähig sind, besser behandeln würden. Der Druck zu funktionieren, hat sich seit der Zeit E. T. A. Hoffmanns ins Unermessliche gesteigert. Von daher kann man den Text auch als eine antikapitalistische, Anarchie-bejahende Erzählung lesen. Was könnte der Mensch sein, wenn er sich nicht vollständig in das System einordnet? Diese Frage beschäftigt mich schon seit Jahren.
„Unser Stoff ist also wirklich relevant“
Worin besteht die Relevanz dieser Frage für die Theaterbühne?
Darin, dass viele Leute sich extrem einsam und isoliert fühlen. Wenn das Theater Menschen zeigt, die an der Welt scheitern, fühlt man sich weniger alleine. Ich denke, Einsamkeit ist psychisch betrachtet eines der größten Probleme. Deshalb kann man auch gar nicht überschätzen, wie stark die psychische Gesundheit von Jugendlichen während der Corona-Zeit gelitten hat. Die Studien dazu sind erschreckend. Unser Stoff ist also wirklich relevant.
„Der Sandmann“ sollte ursprünglich schon im Februar 2022 Premiere feiern und wurde dann sehr kurzfristig abgesagt, weil es Corona-Fälle im Ensemble gab.
Zuerst hatte einer unserer Schauspieler Corona, und am Ende gab es nur noch zwei, die nicht infiziert waren.
Was bedeutet diese Terminverschiebung um fast ein Jahr für eure künstlerische Arbeit?
Durch die zusätzliche Probenzeit, kann die Inszenierung nur gewinnen. Aber es war ein wahnsinniger Dispositionsaufwand, die Aufführungen nachzuholen. Das künstlerische Betriebsbüro leistet zurzeit eine unglaubliche Arbeit, um die vielen Verschiebungen hinzubekommen.
Robert Wilson Theater war prägend
„Der Sandmann“ wird als Oper von Anna Calvi und Robert Wilson angekündigt. Wenn Wilsons Inszenierung durch deine ersetzt wird, warum taucht sein Name in der Ankündigung überhaupt noch auf?
Die Songs von Anna Calvi und auch die Textfassung von Janine Ortiz, die für uns die beiden Ebenen des Stücks bilden, sind in der Zusammenarbeit mit Robert Wilson entstanden. Insofern war Wilson maßgeblich an der Entwicklung beteiligt.
„Es ist schon Wahnsinn, dass ich jetzt selbst dort inszeniere, weil der Ort durch die Kindheitserlebnisse sehr stark aufgeladen ist.“
Charlotte Sprenger
Welches Verhältnis hast du zu Wilsons Inszenierungen, von denen seit den 1980er-Jahren ja viele am Thalia Theater stattfanden?
Ich kenne ihn seit meiner Kindheit, weil ich in Hamburg aufgewachsen bin. Sein Theater war für mich prägend. Wilson ist eine Inspiration für alle, die sich mit Schauerromantik beschäftigen. Aber natürlich werde ich seine Inszenierung des „Sandmanns“, mit der 2017 die Ruhrfestspiele Recklinghausen eröffnet wurden, nicht einfach reproduzieren.
„Das machen wir, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen“
Du bist nicht nur in Hamburg, sondern wahrscheinlich auch mehr oder weniger am Thalia Theater aufgewachsen. Deine Mutter Victoria Trauttmansdorff gehört seit 30 Jahren zum Ensemble, und auch dein Vater Wolf-Dietrich Sprenger war zehn Jahre lang Ensemblemitglied und hat am Thalia Theater Regie geführt. Welche Beziehung hast du speziell zu diesem Theater?
Es ist schon Wahnsinn, dass ich jetzt selbst dort inszeniere, weil der Ort durch die Kindheitserlebnisse sehr stark aufgeladen ist. Aber durch meine eigene Arbeit dort entstand auch sehr schnell ein neues, anderes Gefühl. Auch da findet eine Verschiebung, eine Verrückung statt.
Hast du mit deiner Mutter schon im Theaterbereich zusammengearbeitet?
Nein, das machen wir, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist und sich ein Stoff dafür anbietet. Dadurch lernt man bestimmt noch eine Menge über sich selbst.
„Der Sandmann“, Premiere am 8. Januar im Thalia Theater. Weitere Termine 10. & 15. Januar sowie 22. & 28. Februar