Corona in Hamburg: Die Stunde Null

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Symbol des neuen Normalen: die Schutzmaske (Foto: Adam Nieścioruk via Unsplash)

Während die Wirtschaft in die Rezession rutscht, hat der Wunsch nach einer entschleunigten, klimaverträglichen und gerechten Welt samt bedingungslosem Grundeinkommen Hochkonjunktur. Bricht nun eine Zeit des gesellschaftlichen Wandels an? Ist eine bessere Welt „nach Corona“ denkbar? Über Wunsch und Wirklichkeit einer hinter Mundschutz geführten Debatte

Text: Marco Arellano Gomes

Wer die Altonaer Straße entlangspazierte, stieß in Höhe eines Discount-Marktes auf eine Backsteinwand, auf der ein Satz geschrieben stand, der die gegenwärtige Gefühlslage auf den Punkt bringt „We can’t return to normal“. Direkt darüber befinden sich einige reflektierende Fensterscheiben, die die Umgebung verzerrt widerspiegeln. Bäume krümmen sich darin und fließen, wie in einem Dalí-Gemälde, mit den schemenhaft erkennbaren Gebäuden der gegenüberliegenden Straßenseite zusammen, sodass sie ein skurriles Abbild der Realität wiedergeben. Normal, so vermittelt es diese Wand, ist gar nichts mehr.

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Was ist das nur für eine Zeit, in der ein Virus das gesamte Leben zum Stillstand bringt? Ist es eine Phase, die rückblickend wieder vergessen sein wird? Oder ein epochales Ereignis, aus dem es kein Zurück gibt? „So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie“, sagte der Philosoph Jürgen Habermas der Frankfurter Rundschau und empfahl, sich „mit unvorsichtigen Prognosen“ zurückzuhalten – was selbstverständlich nicht geschieht.

Henry Kissinger, Grandseigneur der Weltpolitik, meldet sich mit stolzen 96 Jahren im Wall Street Journal mahnend zu Wort: „Wenn die Covid-19-Pandemie vorüber ist“, so der ehemalige US-Außenminister, „werden die Institutionen vieler Länder in der Wahrnehmung der Menschen versagt haben. Es ist irrelevant, ob dieses Urteil objektiv gerechtfertigt ist. Die Wahrheit ist: Die Welt wird nach dem Coronavirus nicht mehr dieselbe sein.“ Selbst Jogi Löw, der ewige Trainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, fühlte sich berufen, die Corona-Krise zu kommentieren: „Die Erde scheint sich ein bisschen zu stemmen gegen die Menschen und ihr Tun.“

Alles scheint möglich

Mit einer Rückkehr zur Normalität rechnet inzwischen kaum noch jemand. Aber wenn es kein Zurück mehr gibt, was folgt dann? Ein sinkender Lebensstandard? Die Verarmung breiter Bevölkerungsteile? Ein weltweiter ökonomischer Niedergang? Verteilungskämpfe? Ein Anstieg der Kriminalität? Ein Erstarken autoritärer und nationalistischer Kräfte? Revolutionen? Oder vielmehr die Rückkehr des europäischen Gedankens? Eine Renaissance der Humanität? Die Zähmung des Kapitalismus? Eine Wiederbelebung der Vereinten Nationen? Die Abwahl Donald Trumps? Alles scheint möglich.

Die Ansichten darüber, wie die Post-Corona-Zeit aussehen soll, könnten unterschiedlicher nicht sein. Einig sind sich alle bloß darin, dass es so etwas in der modernen Geschichte noch nie gegeben hat: Selbstverständliche Freiheiten sind auf unbestimmte Zeit außer Kraft gesetzt. Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen bestimmen den Alltag. Auch in Hamburg werden sich die Einwohner daran gewöhnen müssen, einen Mindestabstand von einen Meter fünfzig einzuhalten, den Mundschutz als notwendiges Modeaccessoire zu betrachten, gläserne Schutzwände zwischen sich und den Verkäufern zu akzeptieren, Handschuhe zu tragen, bargeldlos zu zahlen und sich in Geduld zu üben. Bürger bleiben zu Hause, arbeiten im Homeoffice, gehen sich aus dem Weg und nutzen kaum noch die öffentlichen Verkehrsmittel. Polizisten kontrollieren die Straßen, Sicherheitskräfte stehen an den Eingängen der Supermärkte. Der Ton ist rauer geworden, die Blicke ängstlicher, die soziale Distanz größer. Das alles ist anstrengend, ungewohnt und unangenehm, muss aber bis auf Weiteres ertragen werden.

„Wir bewegen uns in eine neue Normalität. Die wird länger dauern“, sagte Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz in gewohnt trockener Art. Die Pandemie hat alles, was Metropolen lebenswert und erfolgreich macht, innerhalb kürzester Zeit in ein Horrorszenario verwandelt. Ein Hauch von Diktatur schwirrt durch die Freie und Hansestadt Hamburg, diktiert von einem mikroskopisch kleinen Krankheitserreger mit der Bezeichnung SARS-CoV-2.

Der Blick zurück

Jede Krise unterteilt die Zeit in ein Davor und ein Danach. Wenn die üblichen Routinen nicht mehr greifen, und der zuvor normale Zustand nicht mehr herzustellen ist, dann schlägt die Stunde der Alternativen, der Möglichkeiten und Utopien. Und je länger die Haare aufgrund der Schließung der Friseurstuben werden, desto revolutionärer klingen die geäußerten Ideen. In solchen Zeiten erhalten noch so quere Ideen Aufmerksamkeit. Trendforscher, Kritiker, Historiker und Virologen melden sich zu Wort und finden Gehör. Quacksalber kommen aus ihren Löchern und nutzen die Angst und Ungewissheit der Menschen für ihre perfiden Pläne.

Gab es eine solche Situation schon mal? Was hat man damals gemacht? Was sollte man in Zukunft tun? In Hamburg wird gern auf den Ausbruch der Cholera 1892 verwiesen. Nach dem Großen Brand von 1842, war es die zweite große Krise der Hansestadt binnen 50 Jahren. Damals waren es die unhygienischen Bedingungen auf zu engem Raum sowie die Entnahme des Trinkwassers aus den ungefilterten Gewässern der Großstadt, die der Durchfallerkrankung leichtes Spiel bereiteten. Robert Koch, der Mikrobiologe, auf dessen Namen das heute im Mittelpunkt der Politikberatung stehende Robert Koch Institut (RKI) zurückgeht, bemängelte damals die Verhältnisse im Gängeviertel, der Steinstraße, aber auch der Spitalerstraße. Er habe „noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen“, fasste Koch erschrocken zusammen. „Ich vergesse, dass ich mich in Europa befinde.“ Das tun einige Politiker dieser Tage leider auch.

Menschengemachte Gefahr?

Wer den Einwand erhebt, mit diesem Virus hätte man nicht rechnen können, dem sei das Interview von Christian Drosten mit der SZENE HAMBURG vom Dezember 2003 empfohlen. Darin weist der durch den NDR-Podcast „Coronavirus- Update“ zu Berühmtheit gelangte Virologe darauf hin, dass das Thema zwar aus der Öffentlichkeit verschwunden sei, aber eben nicht aus der wissenschaftlichen Welt: „Es gibt momentan zwar keinen bekannten Fall von SARS mehr auf der Erde – aber das heißt kaum etwas. Wie HIV, hat sich der SARS-Erreger irgendwo in der Natur, wahrscheinlich in einem Tier und völlig unabhängig vom Menschen, entwickelt“, sagte er damals. „Nur weil momentan kein Mensch infiziert ist, heißt das nicht, dass es nicht wieder passieren kann. Bisher gibt es weder einen Impfstoff gegen das Virus, noch Medikamente, um SARS zu behandeln.“ Heute, 17 Jahre später, ist SARS wieder da – in neuer Form und tödlicher als zuvor. Medikamente oder gar einen Impfstoff gibt es hingegen immer noch nicht.

Am 19. März 2020 sagte Olaf Scholz in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ mit belegter Stimme, dass die Corona-Krise im Gegensatz zur Finanzkrise von 2008 „nicht menschengemacht“ sei. Das kann man so sehen. Man kann diese Aussage aber auch infrage stellen: Sind es nicht Menschen, die Wälder abholzen und in Gebiete vordringen, in denen Tiere leben, die wohlweislich das SARS-Virus in sich tragen? Sind es nicht Menschen, die solche Tiere in den Großmärkten verkaufen, in Umlauf bringen und somit eine Übertragung begünstigen? Ist es nicht die globale Vernetzung, die das Virus in Rekordzeit um den Globus brachte und verteilte? Waren es nicht Menschen, die jahrelang das Gesundheitssystem privatisiert und kaputtgespart haben, sodass die Kapazitätsgrenzen eklatant unter dem Wert liegen, den es zuvor hatte? Waren es nicht Menschen, die entschieden, dass die Erforschung des SARS-Virus keine weiteren finanziellen Mittel benötigt? Politik kann alternativlos erscheinen, wenn alle Alternativen zuvor systematisch verbaut wurden.

Die neue Normalität

Gegenwärtig tobt der Kampf gegen das Virus – und dieser wird noch lange im Mittelpunkt stehen. Aber es gibt parallel dazu auch ein Ringen des Alten mit dem Neuen. Nichts verdeutlicht dies mehr als die ungleiche Verteilung der Risiken zwischen jungen und alten Menschen. Aber es betrifft noch viel mehr: Einzelhandel vs. Onlineversand, Restaurants vs. Lieferdienste, Kino vs. Streaming, analog vs. digital, öffentlich vs. privat, sozial vs. egoistisch, ökologisch vs. ökonomisch, global vs. national, demokratisch vs. autokratisch.

Krisen, so heißt es, eröffnen auch Chancen. In unsicheren Zeiten ist der Wunsch nach Information, Orientierung und Hoffnung verständlicherweise groß. Nicht selten verschwimmen dabei die Grenzen zwischen realistischen Vorschlägen und bloßem Wunschdenken. Wer die Debatte über eine mögliche Zeit nach Corona verfolgt, stellt fest, dass die Lösung oft darin gesehen wird, den Kapitalismus infrage zu stellen. Gefordert wird ein wirtschaftliches Handeln, dessen Logik nicht einseitig auf Wachstum basiert. Neu ist dieser Gedanke nicht. Aber wie kann ein solches alternatives Wirtschaftssystem aussehen? Reicht es, das Bestehende schrittweise anzupassen? Oder soll ein gänzlich Anderes das Jetzige ersetzen? Wie realistisch ist das überhaupt?

Was Optimisten derzeit hoffen lässt, ist der Beweis, dass die Demokratie nicht so machtlos ist, wie zynische Beobachter in der Vergangenheit behaupteten. Die Politiker entpuppen sich derzeit eben nicht als folgsame Marionetten der Großkonzerne, als die sie oft karikiert wurden. Wäre dem so, hätten sie die Wirtschaft nicht so rigoros auf Eis gelegt. So handlungsfähig die Nationalstaaten nach innen erscheinen, so unfähig sind sie auf internationaler Ebene. Die einzelnen Staaten sind längst in einem Geflecht eingebunden, aus dem es kein einseitiges Entrinnen und Entscheiden gibt. Wer globale Probleme wie die Corona-Pandemie oder die Erderwärmung in den Griff bekommen will, wird dies nur durch globale Kooperation und Koordination schaffen.

Die Wirklichkeit ist oft komplexer und vielschichtiger, als es Verschwörungstheoretiker und Sozialromantiker wahrhaben und vermitteln wollen. Dennoch scheint in dieser Ausnahmesituation eine alternative Zukunft möglich. Schon die Sorge um die Erderwärmung, die mit den Klimastreiks um Greta Thunberg ins öffentliche Bewusstsein gelangte, hat das moderne Versprechen von Fortschritt und stetigem Wachstum in Zweifel gezogen. Der Boden für einen Wandel ist also bereitet.

Zeit für ein Grundeinkommen?

Wenn Mensch und Natur in Zukunft verstärkt im Mittelpunkt stehen würden, wäre bereits viel gewonnen. Hierzu wäre es wichtig, neu zu bestimmen, was als öffentliches Gut gelten soll und was nicht. Auch ein bedingungsloses Grundeinkommen kann dazu beitragen, den Menschen in einer Demokratie eben nicht einseitig nach seiner Eignung für den Arbeitsmarkt zu bewerten, sondern als Teil einer demokratischen Gesellschaft. Was den Gedanken eines Grundeinkommens so stark macht, ist, dass es ein demokratisches Grundversprechen einlöst. In einer Demokratie sind nämlich alle Menschen systemrelevant.

In Hamburg könnte ein solches Grundeinkommen bald getestet werden. Die Volksinitiative für bedingungsloses Grundeinkommen hat mehr als 10.000 Unterschriften gesammelt. Für eine Testphase von drei Jahren sollen 2.000 Hamburger ein Grundeinkommen erhalten, wenn die Hamburger Bürgerschaft sich bis zum 2. September dafür entscheidet. Wenn nicht, strebt die Initiative ein Volksbegehren an. Dass die Idee eines Grundeinkommens kein Hirngespinst ist, zeigt sich daran, dass mehr als 450.000 Menschen sich auf der Plattform change.org ebenfalls für eine entsprechende Petition ausgesprochen haben. Viele namhafte Unternehmer wie Götz Werner (dm) werben seit Jahren dafür. Thomas Straubhaar, Professor der Volkswirtschaft an der Uni Hamburg, ist ebenfalls Befürworter. Auch Papst Franziskus sprach sich zu Ostern in einem Brief an die sozialen Volksbewegungen dafür aus.

Freiheit ist ohne die Erfahrung der Unfreiheit nicht denkbar

Die bundesrepublikanische Demokratie ist 70 Jahre alt – und gehört somit zur Risikogruppe. Je länger Corona (lateinisch: Krone) herrscht, desto gefährdeter ist die Demokratie. Oder liegt darin etwa auch eine Chance?

Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, verwies im Hamburger Abendblatt in einem Gastbeitrag auf Platons Fesselgleichnis. Darin werden Sokrates, der sich in Gefangenschaft befindet, die Fesseln entfernt, woraufhin dieser sinngemäß sagt, dass nur der, der die Fesseln kennt, ihre Abwesenheit wertschätzen kann. Freiheit, so die Erkenntnis, ist ohne die Erfahrung der Unfreiheit nicht denkbar.

Das Überraschende dieser Tage ist ja, dass es nicht primär die Elektronikgeräte, Automobile und Urlaubsreisen sind, die fehlen. Vielmehr sind es die Besuche bei den Eltern und Großeltern, die spontanen Treffen mit Freunden, das zwanglose Kennenlernen von Fremden, die gemeinsamen Erlebnisse in den Kinos, Theatern, Konzerthallen, Nachtklubs und Fußballstadien, die grenzenlosen Genüsse in den Restaurants, Bars und Cafés, und ja: auch das gemeinsame Schlendern und Shoppen in den Einkaufspassagen. Was all diesen kulturellen Erlebnissen zugrunde liegt, sie zu etwas Besonderem macht und das Leben in einer Stadt – neben den horrenden Mieten – so unbezahlbar macht, ist die zivilisierende, inspirierende und pulsierende Kraft des menschlichen Miteinanders.

Der Schriftzug „We can’t return to normal“ ist übrigens – nach nur wenigen Tagen – von der Wand an der Altonaer Straße verschwunden. Da rutscht einem doch glatt der Mundschutz über die Kinnlade: Erstaunlich, wie schnell ein Graffiti entfernt werden kann. Die Zeiten sind wohl wirklich nicht normal.


 SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Mai 2020. Das Magazin ist seit dem 30. April 2020 im Handel und  auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich! 

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