Ein Konzerthaus für alle. Auch für Willi?

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Grenzen der Inklusion: Willi (10) ist schwer musikbegeistert – und schwer geistig behindert. Bei einer Probe des NDR Elbphilharmonie Orchesters hat der Junge im vollbesetzten Großen Saal des neuen Konzerthauses getanzt. Doch ist dieses Verhalten für das Publikum zumutbar?

Als Willi nach Hause kommt, wird’s trubelig. Und laut. Um kurz nach 15 Uhr stürmt der Junge, zurück von der Schule, ins Esszimmer. Sein Blick fixiert das iPad auf dem Tisch. Vier Laufschritte und eine Bildschirmberührung später ertönt daraus Musik: Peter Tschaikowsky, „Der Nussknacker“. Willi stößt ein euphorisches „Aaah!“ aus. Er greift das Tablet und rennt damit auf Toilette. Während die Klospülung läuft, spielt Willis Musikanlage Beethovens Coriolan-Ouvertüre – mit Video des Bayerischen Staatsorchesters. Willi flitzt zurück an den Esstisch. Während seine Mutter ihm warme Laugenstangen aus dem Ofen holt, klickt sich der Zehnjährige durch sein Musikrepertoire. Teilweise so schnell, als wolle er all seine Lieblingsstücke auf einmal hören. Dann steht Essen und Trinken auf dem Tisch. Das iPad weicht ein Stück nach links. In seiner rechten Hand hält Willi wahlweise eine Laugenstange oder einen Becher Milch. Die linke wippt nun lässig im Takt von „Buena Vista Social Club“, Track 2. Auch sein Kopf nickt gemütlich im Rhythmus. Die Musik hat den Jungen mit Down-Syndrom voll unter Kontrolle. Das ist die Sprache, die er liebt.

Nur über Symbole auf der Sprach-App kann Birte Müller mit ihrem Sohn kommunizieren

„Wird die Elbphilharmonie wirklich für alle Menschen da sein, selbst für so einen wie meinen Sohn, für den ich keine Verhaltensgarantie abgeben kann?“, fragte Willis Mutter, Birte Müller, im Februar dieses Jahres – kurz nach Einweihung von Hamburgs neuem Wahrzeichen – in ihrer Kolumne bei Spiegel Online. Müller hat hier nicht nur den Wunsch geäußert, dass auch ihr Sohn einmal den besonderen Klang im Großen Saal erleben darf. Sie offenbart vielmehr an einem Beispiel, wo Inklusion an Grenzen stößt: Haben Menschen mit Behinderung, die sich nicht mehrheitskonform verhalten können, dennoch das Recht, an Kulturveranstaltungen teilzunehmen? Oder ist die Mehrheit dazu berechtigt, solche Menschen auszuschließen, weil ansonsten ihr eigenes Erleben behindert wird? Ein Spannungsfeld.

Sechsmal hat die Familie sich bereits in dieses Spannungsfeld begeben und ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Der erste Versuch vor fünf Jahren, ein Auftritt des Münchener Bläserensembles Blechschaden in der Laeiszhalle, scheiterte nach einer Viertelstunde: Im Oberrang bekam Willi Panik, die Familie musste das Konzert verlassen. Ein Jahr später der zweite Anlauf. Wieder Laeiszhalle, „Peter und der Wolf“. Für Willi bis heute ein Evergreen. Die Familie sitzt nun im Parkett. Das Problem diesmal: Es ist ein Kinderkonzert. Die Lieder werden gekürzt, Gesprächsdialoge eingefügt. Willi nervt es zutiefst: „In den Textpassagen ist er ausgeflippt, hat auf den Nachbarn vor sich gehauen in der Hoffnung, dass dadurch jemand wieder für Musik sorgt“, erzählt Birte Müller.

In Konzerten für Erwachsene kommt die Musik zwar voll zur Geltung – dafür empfinden hier viele schon ein hörbares Räuspern als Störung. Wenn ein Paukenschlag dramatische Spannung erzeugt, kann Willi diese aber nicht einfach aufnehmen. Er muss seinem Sitznachbarn auf die Schulter klopfen, auf die Trommel zeigen, und „Oooaaahh!“ jauchzen. Wenn er dafür nur ein „Pssst“ erntet, bringt ihn das auf die Palme. Er wird noch lauter. „In solchen Situationen läuft mir der Schweiß. Mir tun alle leid; die Musiker, Willi und die anderen Zuschauer“, sagt Birte Müller.

Sie selbst hat dann nur zwei Optionen: Die Spannung aushalten – oder mit ihrer Familie die Flucht antreten. Warum besucht die Familie nach all diesen – für alle Beteiligten – unschönen Erfahrungen weiterhin Konzerte? Weil es auch Erlebnisse gegeben hat, in denen Birte Müller keine Schweißperlen, sondern Tränen der Rührung über das Gesicht gelaufen sind. Wenn Willis Verhaltensauffälligkeit nicht stört, sondern seine auffällige Musikbegeisterung andere Menschen berührt. Wie im März in der Christuskirche Eidelstedt: Beim jährlichen „Brückenkonzert“ sind ausdrücklich auch Menschen mit geistiger Behinderung willkommen. Die klassische Musik soll eine verbindende Brücke schlagen. Zwischen Schwerstmehrfachbehinderten und Schwerstmehrfachnormalen rümpfte an Willis zehntem Geburtstag niemand die Nase, als dieser während Bachs Klavierkonzert Nr. 1 plötzlich aufstand, um sich zur Musik zu bewegen. Der musikalische Leiter der Kirche zeigte sich davon sichtlich bewegt: „Ich habe es noch nie erlebt, dass jemand zu Bach getanzt hat“, sagte er in seiner Rede nach dem Konzert unter Tränen.

Als Birte Müller im Februar in ihrer Online-Kolumne fragte, ob ihr Sohn auch im „Konzerthaus für alle“ willkommen sei, rechnete sie nicht damit: Vier Monate später durfte Willi mit Mama und Opa an einer Probe des NDR Elbphilharmonie Orchesters teilnehmen. Eine Mitarbeiterin hatte sie eingeladen. Willi hörte erst gebannt zu, dann stand er auf und tanzte. Er war dermaßen begeistert, dass er am Ende aus dem Saal getragen werden musste. „Mit Willi in die Probe zu kommen, hat mir viel bedeutet“, schrieb Birte Müller hinterher in einem Dankesbrief. „Wir können einfach nicht in ,normale‘ Konzerte gehen. Und das schmerzt sehr, wenn man ein Kind hat, das nur wenige Wörter mit Gebärden sagen kann, und das einen sonntagmorgens mit den Zeichen für Pauke, Geige, Trompete und Kontrabass begrüßt, und ich ihm aber eben nur ganz selten diesen Wunsch erfüllen kann.“ Doch Birte Müller hat Mut gefasst. Sie weiß, dass Konzerte, „in denen explizit alle willkommen sind“, Erfolg haben können. „Ich finde es gut, wenn Leute ganz ruhig und tief in die Musik einsteigen wollen, wirklich. Ich möchte nur, dass es auch Tage gibt, an denen es anders laufen könnte.“

An die Elbphilharmonie richtet sie einen konkreten Vorschlag: „Ein vierteljährliches ,All inclusive‘-Konzert, zu dem jeder eingeladen ist. Je nach Nachfrage wird Menschen mit geistiger Behinderung auf einen Anteil der Karten ein Vorkaufsrecht eingeräumt.“ Das Ziel: „Ein inklusives Publikum, in dem jeder seine Begeisterung unterschiedlich zum Ausdruck bringt. Im besten Fall beschert es allen ein bereicherndes Erlebnis, weil die Erwartungshaltung eine andere ist.“

Tom R. Schulz, Pressesprecher der Elbphilharmonie, hält diesen Vorschlag „grundsätzlich für eine super Idee“. Auch für Nichtbehinderte könne das Erleben einer von außen betrachtet ungesteuerten emotionalen Musikbegeisterung sehr bewegend sein. Aber: Willi sei für die Elbphilharmonie erst einmal ein ganz besonderer Fall von Musikliebe. „Bislang hat sich noch niemand sonst in einer vergleichbaren Lebenssituation an uns gewandt, der oder die Musik live erleben möchte, sich dabei aber nicht so verhalten kann, wie wir das von Konzertbesuchern sonst erwarten.“ Seine Empfehlung: Die Betroffenen sollten gemeinschaftlich einen Wunsch formulieren und an die drei großen Hamburger Orchester herantragen. Wenn die Musiker sich darauf einlassen, glaubt Schulz, „dass in so einer Veranstaltung, wenn sie gut vorbereitet ist, ein großes Potenzial stecken kann.“

Texte: David Hock / Fotos: Jakob Börner

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