SZENE HAMBURG: Rocko, Jacques und Heinz, wieder einmal kann man euch am Schauspielhaus in einer eigenen Inszenierung erleben. In der Romanvorlage „Ein Sommer in Niendorf“ geht es um den Wirtschaftsanwalt Georg Roth, der sich an der Ostsee eine dreimonatige Auszeit nimmt, um dort seine nationalsozialistisch belastete Familiengeschichte aufzuschreiben. Ist das wirklich ein geeigneter Stoff für die Bühne?
Rocko Schamoni: Zunächst muss man sagen, dass wir den Roman nicht eins zu eins auf die Bühne bringen, sondern eigentlich ein komplett neues Stück geschrieben haben. Die gemeinsame Schreibarbeit bringt uns am meisten Spaß. Da ergeben sich häufig sehr freudvolle Blüten des Wahnsinns.
Heinz, fühlst du dich als Autor der Romanvorlage da nicht manchmal an die Seite gedrängt?
Heinz Strunk: Wir haben 18 Monate an dem Regiebuch gearbeitet, aber Streit gab es dabei nie. Ich habe das Gefühl, je älter wir werden, desto rücksichtsvoller und freundlicher gehen wir miteinander um. Für unsere neunte Theaterproduktion sind wir jetzt wirklich gut vorbereitet und haben jede Szene, jeden Dialog immer wieder geprüft. So können wir den Stress während der Probenzeit auf einem niedrigen Level halten.
Jacques Palminger: Es war der gemeinsame Wunsch, gut vorbereitet in die Produktion zu gehen und möglichst lange gelassen zu bleiben, auch wenn es in jeder Situation immer sehr viele Ideen und unterschiedliche Ansichten gibt. Am Ende steht aber immer die Braun’sche Quality Control Instance, die wir zu dritt sind, und alle Ideen müssen durch alle drei Köpfe durchgegangen sein, damit sie den Braun’schen Touch bekommen.
Strunk: Das betrifft neben den Dialogen auch die Kostüme, das Bühnenbild und vor allem die Musik, die ja ein integraler Bestandteil bei uns ist. Das alles muss zusammenpassen, und es macht mich total glücklich, dass alle beteiligten Kollegen da so genau arbeiten.
Palminger: Nicht zu vergessen die ganzen tollen Schauspieler:innen, die Musiker, Sänger:innen und sieben professionellen Tänzer:innen, choreografiert von unserer alten Freundin Rica Blunck. Wenn das alles zusammenkommt, kann etwas entstehen, was wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können.
Was darf man musikalisch erwarten?
Schamoni: Wir arbeiten sehr eng mit unserem musikalischen Leiter, Arrangeur und Komponisten Sebastian Hoffmann zusammen. Häufig sind wir vom Filmgenre beeinflusst, also von Henry Mancini über Jerry Goldsmith bis Ennio Morricone und Nino Rota. Manchmal verwenden wir Originalmusiken, manchmal schreibt Sebastian etwas Ähnliches, wobei Jacques, Heinz und ich auch unsere eigenen Song-Ideen beisteuern.
Charlie Hübner ist als Bindeglied in der Produktion Gold wert
Bleibt bei einer so perfekten Vorbereitung eigentlich noch Raum für Änderungen während der Proben?
Schamoni: Auch wenn es etwas romantisierend klingt, ist die Idee von Kollektivarbeit bei uns relativ ausgeprägt. Es gilt unsere alte Regel: Die beste Idee gewinnt, auch wenn sie von einer Person kommt, die noch ganz neu im Team ist.
Strunk: Dazu haben wir das Glück, zum dritten Mal mit Charlie Hübner zusammenzuarbeiten. Er ist nicht nur ein großartiger Schauspieler, sondern menschlich in der Lage, eine ganze Produktion auf sanfte Art zusammenzuhalten.
Schamoni: Das stimmt. Fehler oder Gefahren fallen ihm sofort auf. Er merkt auch gleich, wenn etwas fehlt und weiß dann, was man noch hinzufügen könnte, weil er extrem schnell in die Breite denkt.
Palminger: Fairerweise muss man sagen, dass auch alle anderen Beteiligten top sind in ihren Einschätzungen, ihrer Offenheit und der Qualität der Kommentare. Aber mit Charlie als unserem Hauptdarsteller sind wir natürlich am häufigsten im Gespräch.
Schamoni: Was Marcello Mastroianni für Federico Fellini war, ist Charlie Hübner für Studio Braun, was vermutlich nicht ganz einfach für ihn ist, weil drei ganz unterschiedliche Charaktere in ihm ihren Wiedergänger gefunden haben und sich darum zoffen, wer nun die Oberhand hat. Das ist eigentlich eine wahnsinnig lustige Idee für einen Film.

Es steckt viel der drei Studio Braun-Mitglieder in der Figur des Protagonisten
Immerhin zweifach gespalten ist ja auch die Figur des Georg Roth im Stück. Der eine Roth möchte alles in Form bringen und eine Struktur für sein Buch finden. Der andere Roth verfällt – verführt von seinem Saufkumpan Breda – dem Alkohol, wodurch ihm sein ganzes Leben entgleitet. Und das ausgerechnet in Niendorf, an einem Ort, an den sich Menschen begeben, um sich zu erholen, Ruhe zu finden, sich zu sortieren, wieder Kraft zu schöpfen. Warum entwickelt sich bei Roth alles in die entgegengesetzte Richtung?
Strunk: Nach dem zweiten Staatsexamen hat Roth sofort in einer Großkanzlei gearbeitet und einfach durchgekachelt. Seitdem gab es keine Änderungen mehr in seinem Leben. Seine Wunschvorstellung ist, einfach drei Monate entspannt auf dem Balkon zu sitzen und zu schreiben. Aber dazu ist er überhaupt nicht in der Lage.
Palminger: So gesehen steckt da auch eine Menge von uns mit drin. (lacht)
Schamoni: Ich finde, in der Figur Roth bricht die gleiche Abgründigkeit auf wie in unserer Stadt Niendorf. Dort ist alles Oberfläche – wie in Roths Leben als Anwalt. Sobald er aber die Büchse aufmacht, um sich seinen Bestien zu stellen, kommen die alle raus. Niendorf ist auch so eine Büchse der Pandora. Ähnlich wie in den Filmen von David Lynch. Am Anfang von „Blue Velvet“ sieht man einen gepflegten Vorgarten und denkt, glatter und schöner geht es nicht. Dann geht die Kamera in den Rasen rein und stößt auf ein abgeschnittenes Ohr. Diese Abgründe gleichzeitig im Ort und in der Person zu entdecken, finde ich spannend.
Palminger: Du meinst, wir sollten eine Nase am Strand finden?
Schamoni: Ja, eine famose Idee.
Strunk: Das wäre interessant.
Auf der Bühne gehen wir noch ein bisschen weiter als im Buch. Diese Freiheit nehmen wir uns ja bei jedem Stoff, den wir bearbeiten
Studio Braun
Sollte man das Buch lesen, bevor man sich das Stück anschaut?
Schamoni: Man muss es nicht lesen, um das Stück zu verstehen. Aber ich glaube, einige Leute werden sagen: „Das ist ja alles ganz anders als im Buch.“ Die werden dann vielleicht ein Problem haben – oder eine besondere Freude, weil wir auf der Bühne halt noch ein bisschen weitergehen. Diese Freiheit nehmen wir uns ja bei jedem Stoff, den wir bearbeiten.
Wer euch noch nicht kennt – was wohl auf die Wenigsten zutrifft – könnte glauben, dass ihr einen ziemlich abgründigen Stoff auf die Bühne bringt. Aber in der Vorlage steckt auch viel Humor …
Schamoni: Ich denke, Studio Braun ist besonders gut darin, einerseits sehr ernst, traurig, melancholisch oder depressiv sein zu können und andererseits auch immer ein Gegengewicht zu setzen, sodass sich diese Stimmungen wieder auflösen, sich das eigene Elend im Humor spiegelt und man sich darüber lustig machen kann. Diese ganze Klaviatur der Emotionen, des Lebens und Welterlebens von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt ist der Regenbogen dessen, was wir anvisieren.
Palminger: Wir sagen immer, Humor ist Tragik plus Zeit. Wenn du beim Schlussapplaus in den Orchestergraben fällst, und alle gucken zu, kann das wahnsinnig weh tun. Aber in der Rückschau ist das schon sehr lustig.