Der neue Fatih Akin-Film „Rheingold“ feierte auf dem 30. Filmfest Hamburg seine Weltpremiere. Mit SZENE HAMBURG traf sich der Hamburger Regisseur gemeinsam mit Hauptdarsteller Emilio Sakraya zu einem exklusiven Vorgespräch über den Gangster-Rapper Xatar, die eigene Herkunft und Hamburg als Drehort
Interview: Marco Arellano Gomes
SZENE HAMBURG: Fatih, dein neuer Film „Rheingold“ feiert auf dem 30. Filmfest Hamburg seine Weltpremiere. Wann kam dir die Idee, die Geschichte des Gangster-Rappers Xatar alias Giwar Hajabi zu verfilmen?
Fatih Akin: Die Idee kam mir, nachdem ich seine Autobiografie gelesen hatte. Das Leben, das er gelebt hat, ist einmalig. Die ersten Sätze in seiner Biografie lauten: „Die ersten Erinnerungen meines Lebens sind Erinnerungen an den Knast.“ Das ist erst mal ein Satz! Wenn du dir das visualisierst, spürst du direkt die Kraft, die hinter seiner Lebensgeschichte steckt.
Fatih Akin: Der Geschichtenerzähler
Was hat dich an dem Stoff am meisten fasziniert?
Akin: Als ich seine Lebensgeschichte entdeckte, dachte ich: „Okay das ist mal ein Narrativ! Das würde ich gern verfilmen.“ Ich meine, der Typ wurde während der Bombardierung kurdischer Freiheitskämpfer in einer Höhle geboren, dann floh er mit seiner Familie über Irak und Paris bis nach Bonn. Als Jugendlicher wird er kriminell, um zu Geld zu kommen – bis hin zum spektakulären Goldraub und der legendären Aufnahme seiner Platte „Nr. 415“ im Gefängnis. Das ist ein einmaliges, episches Leben. Ich bin Geschichtenerzähler und daher immer auf der Suche nach so was. Das Leben schreibt nun mal die besten Geschichten.
Man muss sich also nicht für Rap interessieren, um sich „Rheingold“ anzusehen?
Akin: Ich habe mich nicht für Deutsch-Rap interessiert, aber für Xatars Leben. Das Konzept war immer, dass der Film auch für Ü-60 funktioniert, Alter! (lacht)
„Wir sind an dem Punkt, an dem Känäks Teil der deutschen Mythologie sind“
Mit dem Titel „Rheingold“ wird auf eine der großen deutschen Mythen verwiesen. Was hat es damit auf sich?
Akin: Die Idee kam mir bei einem Besuch bei G (Giwar, Anm. der Red.). Wir sind durch Bad Godesberg gecruist, dem reichen Teil von Bonn. Er zeigte mir, wo er zur Schule ging und den ganzen Shit: Drachenfels und so weiter – der Ort, wo die Nibelungen herkommen. Die Parallele ist klar: Das Gold von Xatars Raub ist wie das der Nibelungen nie gefunden worden. Gleichzeitig gibt es im Mythos das Motiv, dass das Gold unsterblich macht und Ruhm gibt. Das trifft auf den Erfolg mit Musik auch zu. Wir sind an dem Punkt, an dem Känäks Teil der deutschen Mythologie sind.
Hat Xatar den Film bereits gesehen?
Akin: Ja. Es hat ihn sehr beeindruckt und emotional ergriffen. Er hat nie gesagt: „Ey, das möchte ich aber nicht, und das möchte ich nicht.“ Nichts! Er hat uns vertraut und sich fallen lassen, als wäre das eine Therapiesitzung – so fühlte es sich jedenfalls an. Das ist ja auch eine Nummer: Das Leben von jemanden zu verfilmen, der noch lebt und dann daneben sitzt und sich den Film anschaut.
Die wichtige Rolle der Musik
Im Film spielt Musik eine große Rolle. Wann machst du dir im Prozess des Filmemachens um den Einsatz der Musik Gedanken – und war es bei diesem Film anders?
Akin: Der Film beginnt mit einem kurdischen Klagelied aus dem Morgenland, der Wiege der Zivilisation und der Musik in Mesopotamien und endet mit Wagner als Höhepunkt der abendländischen, klassischen Musik. Die Reise von Ost nach West ist auch eine musikalische. Gleichzeitig war es die Gelegenheit, die Entwicklung des Deutsch-Rap und des Gangster-Rap filmisch ein wenig zu verarbeiten. Auch die Musik des Vaters von Xatar spielt eine Rolle, der mit seinen Kompositionen Ost und West verbindet. Der Film ist also auch eine musikalische Archäologie.
Als du das Drehbuch geschrieben hast, hattest du da schon Emilio als Hauptdarsteller vor Augen?
Akin: Emilio kam früh ins Game. Dabei dachte ich, dass es sehr schwer sein würde, Xatar zu besetzen. Das ist ja ein Brocken. Ich dachte: „Wie mache ich das denn, Alter!“ Der Typ hat ja nicht nur eine unique Story, er sieht ja auch unique aus und hat diese Wahnsinnspräsenz. Bei der Recherche fürs Casting habe ich dann „4 Blocks“ geguckt. Ich hatte die Serie noch nicht gesehen. Da sah ich Emilio als hübschen Kleindealer, der abgezockt wird, also eigentlich eine schwächere Figur. Aber er hatte eine Präsenz, die mich umgehauen hatte …
… und in dem Moment wusstest du, dass er der Richtige ist?
Akin: Ich hatte mir bloß notiert, dass ich irgendwann mal mit dem Typen arbeiten wollte. Meine Frau Monique ist für den Cast zuständig – und eines Tages brachte sie mir eine Liste mit fünf, sechs Namen von Schauspielern, einer war Emilio. Da sagte ich zu ihr: „Monique, ist das dein Ernst? Der sieht doch viel zu … gut aus!“ (lacht)
Next-Generation-Schauspieler: Emilio Sakraya
Was überzeugte dich dann?
Akin: Irgendwann stand die Frage im Raum, ob man den Film eher dokumentarisch oder glamourös machen möchte – so wie bei „Gomorrha“ von Matteo Garrone, mit Typen, die Haare auf dem Rücken haben, oder so wie bei „GoodFellas“ von Martin Scorsese, mit eleganten Schauspielern wie Robert De Niro, Joe Pesci und Ray Liotta. Ich entschied mich für Großmeister Scorsese. Also rief ich Emilio an. Gleich beim ersten Casting überzeugte er uns mit Wucht.
Wie würdest du Emilio als Schauspieler beschreiben?
Akin: Emilio ist ein Next-Generation-Schauspieler. Das sind nicht so faule Säcke wie die Darsteller in den 1990ern und 2000ern. Das sind Arbeiter, richtige Macher. Die stürzen sich richtig rein und lernen, sich zu bewegen, trainieren sich Muskeln an und all so ein Shit.
„Ich bin nicht nur der Pferde-Junge von ‚Bibi und Tina’“
Emilio, was war deine erste Reaktion, als du wusstest, dass Fatih Akin dich besetzen möchte?
Emilio Sakraya: Ich habe mich total gefreut und war unfassbar aufgeregt. Ich wollte schon immer etwas spielen, wo ich mich reinschmeißen, mich physisch verändern und aus meiner Komfortzone rauskommen muss. Ein Film, mit dem ich allen Leuten zeigen kann, dass ich nicht nur der Pferde-Junge von „Bibi und Tina“ bin. Das braucht man als Schauspieler einfach: eine Vision, ein nächstes Ziel, die nächste Figur.
Wie hast du dich auf die Rolle vorbereitet?
Sakraya: Ich habe sofort angefangen zu essen und zu trainieren, um Muskeln aufzubauen und schaute mir die ganzen Sachen von G an. Ich verbrachte viel Zeit mit G. Fatih und G kannten sich schon, als ich ihn zum ersten Mal in Köln kennenlernte. Noch am gleichen Abend verbrachte ich vier bis fünf Stunden mit ihm. Von da an fühlte ich mich wie sein persönlicher Assistent. Ich habe ihm viele Fragen gestellt. Ich war die ganze Zeit bei ihm. Es war spannend, ihn zu beobachten. Er ist eine unglaublich interessante Person. Sein Gang war auch immer anders: Er läuft in Bonn anders als in Köln, drinnen anders als draußen.
„Angst hatte ich nicht, aber Respekt“
Gab es auch einen Moment, in dem du Angst vor dem eigenen Mut hattest?
Sakraya: Angst hatte ich nicht, aber Respekt. Der Film behandelt ja etwas viel Größeres als nur einen Menschen. Es geht darin auch um die Themen Migration und Integration. Der Film handelt von jemandem, der klug und musikalisch ist, dem aber nicht erlaubt wird, das auszuleben, weil er nicht deutsch ist. Es wird viele Leute geben, die sich in dieser Figur wiedererkennen werden.
Fiel es dir schwer, dich in diese Welt hineinzudenken?
Sakraya: Was mir in die Karten spielte, war, dass ich die Straße auch ein wenig kenne. Nicht so krass wie im Falle von G, aber es gibt Parallelen. Ich bin auch als Migrant großgeworden und habe mich durchgekämpft.
Fatih, wie wichtig ist es dir, dass es solche Parallelen zwischen Darsteller und Rolle gibt?
Akin: Es hilft. Ich hatte, bevor ich Emilio kennengelernt habe, ein Youtube-Video mit ihm gesehen. Ich kannte ihn ja nicht. Er labert da mit irgendwelchen Leuten und hängt auf der Straße ab. Da sah ich das erste Mal, dass er auch street ist.
„Irgendwann ist man nicht mehr auf der Street“
Würdest du dich denn noch als street beschreiben?
Akin: Irgendwann ist man nicht mehr auf der street. Ich habe eine Frau, ich habe zwei Kinder, ich habe einen Hund, ich habe zwei Firmen, aber ich fahre noch immer S-Bahn. Ich bin mit Jugendgangs aufgewachsen. Meine Eltern lebten im Eckernförder Straße-Ghetto. Das ist etwas ganz anderes als das, was Xatar kannte. Aber die Basic, dass die Straße ein anderes Narrativ hat als das Grundgesetz, kenne ich. Der Film war eine gewisse Rückbesinnung, da er wieder mit Känäks zu tun hat. Und ich merke, dass ich nach wie vor mit denen voll klarkomme.
Hatte Xatar deshalb Respekt vor dir?
Akin: Für Gangster-Rapper ist Erfolg wichtig. Ich komme zwar aus der Filmkunst-Welt, aber dennoch bin ich in deren Augen erfolgreich. Deswegen bin ich auch in deren Hood respected.
Emilio, stimmt es, dass Xatar dir die Glatze für die Rolle persönlich rasiert hat?
Sakraya: Ja, das stimmt. Die erste Glatze in meinem Leben hat sich komisch angefühlt. (lacht) Aber es war wie der letzte Ritterschlag, die finale Verwandlung. Wenn ich in den Spiegel schaue und die Figur visuell sehe, hilft das ungemein. Dann fühle ich, wer diese Figur ist. Der erste Drehtag mit Glatze war der im Puff mit Schwesta Ewa. Da habe ich diesen langen Ledermantel an, den Bart im Gesicht und die Glatze … Akin: … Du sahst aus wie Samuel L. Jackson in „Shaft“, Alter! Sakraya: Das war schon ein geiles Gefühl!
Emilio, wie würdest du die Zusammenarbeit mit Fatih Akin beschreiben?
Sakraya: Für mich war es die Art, wie man Filme machen muss und sollte – das ist mit nichts zu vergleichen, was ich bisher gemacht habe.
Worin liegt der Unterschied?
Sakraya: Ich habe selten einen Film gedreht, bei dem es so sehr um den Film geht wie mit Fatih. Für alles wird sich Zeit genommen. Fatih kam jeden Morgen mit kleinen Zetteln in die Maske und erklärte, worum es für ihn in der jeweiligen Szene geht. Er ist immer offen für Ideen und Vorschläge – egal, von wem die kommen. Es geht ihm immer darum, das Beste für den Film rauszuholen. Das erlebt man selten. Ich würde ja gerne noch mal mit ihm zusammenarbeiten, aber er will ja nicht. Akin: Ey, das stimmt gar nicht. (lacht)
„Je älter ich werde, desto unsicherer werde ich“
Fatih, in einem Interview in der SZENE HAMBURG beschrieb dich Moritz Bleibtreu mit den Worten: „Fatih hat diesen absoluten Willen zur Wahrhaftigkeit – und wenn er sich dafür prügeln muss.“ Fühlst du dich damit gut beschrieben?
Akin: Je älter ich werde, desto unsicherer werde ich. Früher, in der guten alten Zeit reichten mir ein, zwei Takes (klatscht in die Hände) – und ab zum nächsten Set-up. Heute mache ich mehr Takes, weil ich auf der Suche nach etwas bin. Ich glaube, ich suche die Wahrheit. Ich weiß, das ist ein bescheuertes Wort. Wie hat Rainer Werner Fassbinder gesagt: „Film ist Lüge, 24 mal pro Sekunde.“ Vielleicht enthält das 25. Bild aber die Wahrheit. Filmen ist für mich irgendwie die Suche nach dieser Wahrheit.
Steht einem irgendwann auch die eigene Erfahrung im Wege?
Akin: Je mehr man weiß, desto weniger weiß man! Die eigene Sicht auf Film ändert sich permanent. Und jede Änderung erzeugt auch Zweifel.
Wenn man sich deine Karriere anschaut, dann gab es eigentlich nur mit „The Cut“ einen kommerziellen Misserfolg. Braucht es solche Dämpfer, um sich selbst neu zu erfinden?
Akin: Man erfindet sich mit jedem Film neu. Ich bin mit „The Cut“ im Reinen – der Film ist cool. Aber klar: Ich habe seither auch ein wenig gezweifelt. Und ja, ich musste auch die Richtung ein wenig ändern. „The Cut“ war vielleicht der Endpunkt des reinen Filmemachers – so fand ich in mir auch den Regisseur, der mal einen Film als Auftragsarbeit dreht, für den es bereits ein Drehbuch gibt.
Du hast als Regisseur mit deinen Filmen oft den Zeitgeist getroffen. Bei „Gegen die Wand“ war dies der Fall, bei „Soul Kitchen“, bei „The Cut“ und bei „Aus dem Nichts“. Was sagt dir dein Gefühl bei „Rheingold“?
Akin: Keine Ahnung. Vielleicht ist die Zeit gerade etwas gekrümmt. Kann auch sein, dass der Film als anachronistisch betrachtet wird, weil es eine patriarchale Welt beschreibt. Ich wache jedenfalls nicht morgens auf und denke darüber nach, was den Zeitgeist treffen könnte. Das hat viel mit Glück zu tun.
„Ich mache gerne Filme über amoralische Leute“
In deinen Filmen wird oft auch körperliche Gewalt gezeigt. Stehen diese Kämpfe für dich stellvertretend für das Leben oder ist es einfach ein effektives filmisches Erzählmittel?
Akin: Ich mache gerne Filme über amoralische Leute – schon seit „Kurz und schmerzlos“. Ich habe Film immer als ein Mittel der Erforschung des Menschen gesehen. Das ist meine Form von Anthropologie. Es ist natürlich visueller, wenn jemand einem anderen aufs Maul haut, als wenn alles ausdiskutiert wird. In „Rheingold“ gibt es eine Figur, die Xatar trainiert, um auf der Straße zu überleben. Das ist kein Schauspieler. Das ist der Bodyguard von Xatar. Der war früher Türsteher. Das ist ein echt harter Hund. Den habe ich ausgefragt: Warum machst du das? Und wie machst du das? Und er: „Ich hau dem auf die Nase oder breche ihm den Daumen.“ Und ich sagte nur: „Erzähl das im Film, erzähl das im Film.“
Im Film gibt er die perfekte Anleitung zum Straßenkampf …
Akin: … voll! Ich habe ihn gefragt: „Wie schaffst du es, kein Mitleid zu haben?“ Ich kann niemanden verprügeln. Irgendwann setzt bei mir das Gefühl von Mitleid ein. Und was hat er gesagt? Akin: Er sagte: „Es geht am Ende darum: Er oder ich! Deswegen muss ich den ersten Schlag machen, deswegen muss ich ihn auseinandernehmen, deswegen muss ich ihn so aufs Maul hauen, dass er mir nichts antun kann.“ Und ich dachte nur: „Wow! Das ist mal eine Ansage.“ Ich versuche das alles zu verstehen.
„Gewalt ist einfacher als Sex“
Gewalt funktioniert in der Unterhaltungsindustrie ähnlich gut wie Sex. Sex scheint in Filmen aber zunehmend eine geringere Rolle zu spielen. Woran liegt das?
Akin: Sexszenen sind auch wirklich schwierig. Wir haben eine derart sexualisierte Welt, dass ich meist versuche, die Dinge auf einer anderen Ebene zu erzählen. Ich mache gerade eine Serie über Marlene Dietrich, da geht es viel um Sex. Da ist Sex Mittel zum Zweck, ein reines Werkzeug. Da braucht es diese Szenen, um die Handlung voranzubringen. Gewalt ist einfacher als Sex. Aber das bitte nicht als Überschrift wählen. (alle lachen)
Hamburg: Der beste Drehort Deutschlands
„Rheingold“ ist in Teilen in Hamburg gedreht worden: Was bedeutet es für dich in Hamburg zu drehen?
Akin: Ich habe in Berlin, NRW, Baden-Württemberg und in Hamburg gedreht. Und ich kann ganz objektiv sagen – und das nicht, weil ich Hamburger bin –, dass Hamburg der beste Ort zum Drehen in Deutschland ist.
Woran liegt das? Akin: Hamburg ist wie ein Studio. Ich kann eigentlich mehr oder weniger in jeder Straße drehen. Du kannst in Hamburg in Ruhe und für preiswertes Geld drehen. Es ist pragmatischer, effektiver und kostengünstiger.
Wirst du irgendwann wieder einen richtigen Hamburg-Film drehen, oder bist du damit vorerst durch?
Akin: Ja, natürlich. Damit bin ich nicht durch! Das ist ja auch irgendwie ein Marketing-Tool, wie Woody Allen und New York oder Tom Tykwer und Berlin. Ich kenne die Stadt. Ich habe bereits die eine oder andere Geschichte in Vorbereitung. Zum Beispiel würde ich wahnsinnig gern etwas übers Cuneo machen. Da gibt’s schon Pläne, vielleicht eine Serie.
„Rheingold“ läuft ab dem 27. Oktober 2022 in den Kinos
Hier gibt’s den Trailer zum Film:
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