„Im Herzen der Gewalt“ – Theater als tiefe Seelenschau

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Foto: Krafft Angerer

Was mit einem Flirt zwischen Édouard und Reda beginnt endet in einer Vergewaltigung.

Édouard geht es nicht gut. Vielleicht ging es ihm noch niemals gut. Jetzt will er erzählen, was sie ihm angetan haben. Seine Eltern, die Gesellschaft und Reda, der junge Kabyle, den er auf der Straße traf und mit zu sich nach Hause nahm. In der Garage des Thalia Theaters in der Gaußstraße steht Édouard in modisch hellem Zwirn vor einer weißen Stoffwand. Eine Anspielung auf das Laken, das er hektisch auswusch, nachdem Reda ihn darauf vergewaltigt und schließlich zu erwürgen versucht hatte. Seit diesem Ereignis wähnt Édouard sich „Im Herzen der Gewalt“.

Regisseurin Franziska Autzen zeigt in ihrer Theaterfassung des gleichnamigen autobiografischen Romans des 25-jährigen Schriftstellers Édouard Louis, wie vermeintlich eindeutige Schuldzuweisungen ins Wanken geraten können. Der homosexuelle Édouard, der früh sein Elternhaus in der Provinz verließ, kehrt nach dem Gewaltakt zurück zu seiner Schwester Clara.

Die Schauspieler Sebastian Jakob Doppelbauer und Toini Ruhnke werfen aus ganz unterschiedlichen Richtungen Schlaglichter auf Édouards Geschichte, lassen kurze Szenen aufblitzen und versprühen in scharfkantigen Dialogen reichlich Geschwistergift. Clara wirft ihrem Bruder vor, seine Homosexualität als Waffe gegen den Familienfrieden zu nutzen, während Édouard als Opfer nach einer Anerkennung sucht, die ihm die Polizei mit ihren bohrenden Fragen nicht geben wollte.

Eine politische Seelenschau

Inzwischen liegt das weiße Laken am Boden und gibt den Blick auf eine Projektionswand frei. Fluidale Metamorphosen, Stimmengewirr und diffuser Lärm deuten an, was sich in Édouards Kopf abspielt, als die Erinnerung wieder aufkeimt. Wir sehen: Dem Gewaltakt voraus ging ein demütigendes Sadomaso-Spiel, eine sich hochschaukelnde Herr-Knecht-Beziehung zwischen dem gebildeten Franzosen und dem Sohn eines algerischen Zuwanderers. Wer ist hier das Opfer? Plötzlich ist man sich da nicht mehr so sicher.

Dank einer Regie, die sich auf das Wesentliche beschränkt, und dem Spiel zweier Darsteller, die keine Scheu zeigen, bis an ihre Grenzen zu gehen, ist dieser kurzweilige Abend politisches Statement, Seelenschau und nicht zuletzt Theater, über das nachzudenken sich lohnt.

Text: Sören Ingwersen
Foto: Krafft Angerer

Im Herzen der Gewalt (Spielzeit 2018/19), Thalia Theater Gaußstraße


 Dieser Text stammt aus SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Oktober 2018. Das Magazin ist seit dem 29. September 2018 im Handel und zeitlos im Online Shop oder als ePaper erhältlich! 

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