SZENE HAMBURG: Der Titel Ihres Buches „Rechtsextrem, das neue Normal?“ bringt den derzeitigen Status quo in Deutschland ziemlich gut auf den Punkt – leider. Ohne den Inhalt Ihres Buches vorwegnehmen zu wollen, aber: Wie konnte es, mal knapp zusammengefasst, so weit kommen?
Matthias Quent: Vieles war nie weg. Elemente rechtsextremer Einstellungen waren stets Teil der Gesellschaft. Gleichzeitig speist sich der Rechtsextremismus aus Konflikten und Widersprüchen in der Gesellschaft. Rechtsextreme Netzwerke haben ihre Ideologie am Leben erhalten und äußerlich modernisiert, um in Krisenzeiten zu reüssieren. Die ständigen Verharmlosungen als „Protest“ oder „besorgte Bürger“ wirken selbstbestätigend.
Eine Frage, die in meinem Umfeld immer wieder gestellt wird, ist: Wie kann es sein, dass die AfD immer noch tut, was sie tut, wo sie doch erwiesenermaßen demokratiefeindlich und rechtsextrem ist. Sie sind die Experten: Wie lautet Ihre Antwort darauf?
Quent: Weil sie es kann und weil sie damit erfolgreich ist. Die Rechtsextremen besetzen die Räume, die Demokrat:innen ihnen offen lassen – egal ob in der Politik oder in der Kultur. Wenn die Zivilgesellschaft, der Rechtsstaat und auch Wirtschaft und Medien nicht klare rote Linien ziehen, dann gibt es für die Rechtsextremen doch gar keinen Grund nachzulassen.
Sie, Herr Quent, sind Rechtsextremismusforscher und haben sich bereits in Ihrer Magisterarbeit mit dem Thema Rechtsextremismus befasst. Was fasziniert Sie an der Thematik?
Quent: Soziologisch offenbart und radikalisiert der Rechtsextremismus Konflikte und Widersprüche, die die Gesellschaft insgesamt durchziehen. Das macht es interessant. Es ist Forschung über die Abgründe der Gegenwart und wenn wir uns die Weltlage anschauen, beantwortet sich die Frage der Relevanz von selbst. Ich wurde schon mit 14 Jahren von Naziskins verprügelt, das hat dazu beigetragen, dass ich mich überhaupt damit beschäftigte und verstehen wollte und will, woher die rechten Aggressionen kommen.
Gegen den Rechtsruck: Mehr Mittel für politische Bildung
Welche Gegenmaßnahmen würden helfen, um dem derzeitigen Rechtsruck entgegenzuwirken?
Quent: Die demokratischen Akteure dürfen dem Sog nach rechts nicht nachgeben. Die Proteste Anfang dieses Jahres haben vieles in Bewegung gesetzt, da muss die Zivilgesellschaft jetzt dran bleiben und einen langen Atem haben. Einfache Lösungen gibt es nicht. Wir müssen in die Konflikte gehen.
Die Rechtsextremen besetzen die Räume, die Demokrat:innen ihnen offen lassen – egal ob in der Politik oder in der Kultur
Matthias Quent
Als eines der wichtigsten Instrumente, um Rechtsextremisten und Demokratiefeinden etwas entgegenzusetzen, ist bekanntermaßen Bildung. Nun hat das Bundesinnenministerium den Etat der Bundeszentrale für politische Bildung in diesem Jahr um ein Fünftel gekürzt – also zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt.
Quent: Es braucht viel mehr Mittel für politische Bildung innerhalb und außerhalb der Schulen. Die Komplexität und die Gefahr für die Demokratie wachsen ebenso wie die soziale Ungleichheit. Kürzungen im öffentlichen Bereich, in der sozialen Infrastruktur wie bei Bildung und Klimaschutz sind geradezu selbstmörderisch.
Wenn es um den derzeitigen Rechtsruck im Land geht, wird vor allem immer „der Osten“ angeführt, in dem die Umfragewerte der AfD am höchsten sind. Sie leben selbst „im Osten“. Wie nehmen Sie das selbst wahr?
Quent: Paradox. Einerseits ist der Rechtsextremismus im öffentlichen Raum unübersehbar, gerade in ländlichen Regionen hängen teilweise nur noch Plakate der AfD und andere Parteien sind kaum vertreten. Andererseits habe ich privat im Alltag keine Probleme und in meinem näheren sozialen Umfeld, auch an der Hochschule, sind AfD und andere Rechtsextreme bisher kaum präsent. Aber da machen nicht-weiße und weniger privilegierte Menschen ganz andere Erfahrungen. Zur Normalisierung gehört, dass man Menschen rechtsextreme Orientierungen nicht ansieht und auch bei oberflächlichen Gesprächen kaum feststellt.
Wenn die Zivilgesellschaft, der Rechtsstaat und auch Wirtschaft und Medien nicht klare rote Linien ziehen, dann gibt es für die Rechtsextremen doch gar keinen Grund nachzulassen
Matthias Quent
In Hamburg, Schleswig-Holstein und NRW ist die AfD vergleichsweise schwach. Wie erklären Sie das?
Quent: Das müsste man systematisch untersuchen, aber offensichtlich ist, dass in den genannten Ländern eine liberalere politische Kultur herrscht als im Osten oder Süden, was auch die CDU einschließt, die sich dort besonders klar gegen die AfD positioniert.
Helfen Verbote?
In jüngster Zeit wurden AfD-Politikern in etablierten, seriösen Medien immer wieder ein Forum geboten. Was halten Sie davon?
Fabian Virchow: Ich halte davon wenig. Erstens hat die AfD zahlreiche Möglichkeiten, ihre extrem rechten Positionen in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Ein Informationsdefizit besteht also nicht. Zweitens können die Medien auch ohne Live-Interviews eine seriöse Berichterstattung sicherstellen. Drittens hat sich vielfach gezeigt, dass viele Journalist:innen sich schlecht vorbereiten, das heißt unzutreffende Aussagen nicht sofort als falsch bezeichnen oder der Selbstverharmlosung der AfD nicht mit Faktenwissen begegnen können; schließlich zum vielfach angeführten Neutralitätsverständnis. Warum sollten die seriösen Medien einer Gefährdung der Demokratie, die auch ihre Möglichkeiten beschränken würden, neutral gegenüberstehen?
Quent: Gerade öffentlich-rechtliche Medien sind in einem Dilemma, für das es keine gute Lösung gibt. Nach gründlicher Abwägung hielte ich es ebenfalls für besser, der Selbstverharmlosung und dem Agenda Setting der Rechtsextremen kein Forum zu bieten. Mir fällt jedenfalls kein Format ein, in der die viel erhoffte „Entzauberung“ geglückt wäre.
Ein Verbot wäre ein deutliches Signal und kann die nötige politische Auseinandersetzung flankieren
Fabian Virchow
Ein Kapitel Ihres Buches lautet „Die AfD verbieten? Ja, ja und ja!“ Warum?
Virchow: Das ist eine komplexe Angelegenheit. Ein Versuch in aller Kürze: Verbote zielen nicht darauf ab, Einstellungen zu ändern. Verbote sollen Organisationen auflösen, die als Organisation mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen (Geld, Personal, Sendezeit, Zugang zu Informationen und so weiter), einer menschenrechtsfeindlichen Weltanschauung und einer entsprechenden politischen Praxis eine Bedrohung für die Demokratie bedeuten. Ein Verbot wäre ein deutliches Signal und kann die nötige politische Auseinandersetzung flankieren. Es würde die gesamte extreme Rechte stark schwächen, sofern Wiederbetätigungsversuche konsequent strafrechtlich geahndet würden. Ein Verbotsverfahren muss von einer breiten zivilgesellschaftlichen Aufklärungskampagne begleitet werden, um die Opferinszenierung der AfD in ihrer Wirkung zu begrenzen.
Und zum Abschluss die Frage, der Sie auch in Ihrem Buch ein Kapitel gewidmet haben: Was kann jede:r Einzelne von uns tun, um der AfD Nährboden zu entziehen?
Virchow: Das hängt stark davon ab, wie die konkrete Lebenssituation ist. Rassistischen Positionen widersprechen kann jede:r. Sich mit denjenigen solidarisch zeigen, die sexistisch herabgewürdigt oder bedroht werden, ist ebenfalls bedeutsam. Sich selbst kritisch befragen, welche Stereotype und Vorurteile man mit sich herumträgt, zum Beispiel aktuell in der Debatte um das ‚Bürgergeld‘: Sollen nur die etwas bekommen, die auch etwas leisten? Und dann hängt es eben davon ab, ob ich als Betriebsrätin aktiv bin, in einem Sportverein, oder in der Bildungsarbeit – da ergeben sich jeweils spezifische Möglichkeiten. Schließlich: Immer wieder auch öffentlich zeigen, dass die Mehrheit die AfD nicht unterstützt und dafür sorgen, dass ihre Reichweite nicht noch größer wird.
Matthias Quent, Fabian Virchow: Rechtsextrem, das neue Normal?, Piper, 288 Seiten, 22 Euro
Dieses Interview ist zuerst in SZENE HAMBURG 07/2024 erschienen.