Kettcar wollen „die Köpfe und Herzen erreichen“

Die Band um Frontmann Marcus Wiebusch veröffentlicht nach sieben Jahren ein neues Album: „Gute Laune ungerecht verteilt“. Darauf tritt sie unter anderem dem Rechtsruck im Land entschieden entgegen. Ein Gespräch mit Wiebusch über die Wichtigkeit, sich als Künstler zu positionieren
Beziehen Position: Marcus Wiebusch (Mitte) und Kettcar (©Andreas Hornoff)

SZENE HAMBURG: Marcus, die erste Single eures neuen Albums ist vor etwa einem Jahr entstanden, heißt „München“ und handelt von Alltagsrassismus. Geschrieben hat den Song Kettcar-Bassist Reimer Bustorff. Der Refrain geht so: „Wo ich geboren bin? Wo ich geboren bin? Sie fragen, wo ich geboren bin. Ich sag, ich bin geboren in München-Harlaching. München, alte Lady. Mein Herz ist ein totgeschlagenes Robbenbaby.“ Hattet ihr zur Entstehungszeit schon im Gespür, dass Songs wie dieser aufgrund politischer Entwicklungen im Land immer mehr an Relevanz gewinnen könnten?

Marcus Wiebusch: Was in dem Song verhandelt wird, brodelt ja schon lange in unserer Gesellschaft. Begriffe wie „Remigration“ wurden schon von Björn Höcke verwendet, bevor das mit der Konferenz bei Potsdam rauskam. Aber klar: Die Ereignisse haben den Song irgendwann eingeholt. Zur ganzen Wahrheit gehört übrigens: Reimers erste Version des Songs war noch brachialer als diese. Für „München“ wollte ich ihn einfach nur in den Arm nehmen und sagen: „Ich habe zwar ‚Sommer ’89‘ und ‚Der Tag wird kommen‘ geschrieben, aber du hast ‚München‘ geschrieben!“ Der Song ist schon etwas ganz Besonderes.

Kettcar zeigt Haltung

„München“ wurde am 19. Januar veröffentlicht, also am Tag einer der großen Hamburger Demos gegen Rechtsextremismus. Ihr seid dort aufgetreten. Welche Gefühle haben bei euch überwogen: Wut, Enttäuschung oder vielleicht auch eine Art „Auf Hamburg ist Verlass“-Aufatmen?

Es war ein Mix, der ziemlich genau in der Reihenfolge auftrat. Als die Konferenz ans Licht kam, dachten wir nur: „What the fuck? Was passiert hier?“ Dann kamen die Hamburger Demos und weitere in ganz Deutschland. Das war mutmachend. Trotzdem war und bin ich voller Sorge, dass dieses Land sich so weiter entwickelt, dass die AfD Mehrheiten erreicht und die sogenannte Brandmauer keine Brandmauer mehr ist. Die AfD-Politik könnte in Gesetze gegossen werden, davor habe ich wirklich Angst.

Das Video zu „München“ hat Mario Möller gemacht, der auch schon für das Video zu einem anderen Polit-Song von Kettcar verantwortlich war, nämlich zum erwähnten „Sommer ’89“. Fürs „München“-Video ging es zu den NSU-Tatorten. Wart ihr Musiker dabei?

Nein, brauchten wir auch nicht. Mario hatte die Idee, und wir fanden sie gut. Ziel war es, zu dokumentieren, dass es die Endstufe von Rassismus sein kann, loszuziehen und Ausländer umzubringen.

Wir spiegeln unsere Haltung in unserer Musik wider

Marcus Wiebusch

Eine künstlerische Antwort auf verrückte Zeiten

Denkst du, es ist ein Muss für Künstler, gegen Rassismus anzugehen?

Niemand muss irgendetwas. Ich kritisiere auch keine anderen Künstler dafür, wenn sie keine Haltung zeigen. Aber ich finde: Wir Künstler haben das Privileg, dass wir die Köpfe und Herzen von Menschen erreichen können. Wer das bezweifelt, der spinnt. Und wir als Kettcar haben eben diesen Weg gewählt: Wir spiegeln unsere Haltung in unserer Musik wider, mit der uns eigenen Emotionalität. Klar, wir waren auch schon mal anders. Als wir die Band 2002 gegründet haben, hatte ich die Schnauze voll von politischer Musik. Aber die Zeiten sind vorbei. Speziell seit dem letzten Kettcar-Album („Ich vs. Wir“, 2017; Anm. d. Red.) sind wir stark daran interessiert, die Geschichten aus diesem Land in Songs zu bringen und uns zu positionieren.

Wir reagieren auf die Realität

Marcus Wiebusch

Du hast mal über dein Songwriting gesagt, dass du dir von der Realität keine guten Geschichten kaputt machen lässt, deshalb würdest du auch auf Fiktion setzen. Hast du mittlerweile, auch aufgrund der politischen Stimmung im Land, das Gefühl, dass die Realität die künstlerischen Geschichten geradezu diktiert?

Ja, und das ist ernsthaft verrückt. Wir leben in wirklich verrückten Zeiten. Darauf eine künstlerische Antwort zu finden, ist manchmal gar nicht so leicht. Wir reagieren auf jeden Fall auf die Realität, und das nicht nur mit „München“, sondern auch mit Songs zu anderen aktuellen Themen. Zum Beispiel mit „Doug & Florence“, worin es heißt: „Paketzusteller of the world, unite and take over.“  

„Gute Laune ungerecht verteilt“ erscheint am 5. April 2024 bei Grand Hotel van Cleef/The Orchard/Indigo. Live gibt es Kettcar am 27. April 2024 um 19.30 Uhr in der Sporthalle

Das Video zu „München“ vom neuen Kettcar-Album „Gute Laune ungerecht verteilt“:

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Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 04/2024 erschienen.

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