Die Sängerin und Songschreiberin hat mit „Nie zur selben Zeit“ ein neues Album veröffentlicht – und mit „Schmerz vereint“ einen berührenden Song für Betroffene von sexueller Gewalt
Interview: Erik Brandt-Höge
SZENE HAMBURG: Lina, zwei Jahre ist es her, als du zuletzt ein Album veröffentlicht hast. Mehr als anderthalb davon waren von der Pandemie geprägt. Wie hat Corona den Entstehungsprozess von „Nie zur selben Zeit“ beeinflusst?
Lina Maly: Corona hat dazu geführt, dass ich mir ein ganz kleines Team gesucht habe, bestehend aus nur zwei Leuten: Florian Sievers und mir. Es gab keine Musiker oder Musikerinnen, die vorbeikamen, um mal etwas einzuspielen. Wir haben alles selbst gemacht. „Nie zur selben Zeit“ ist also eine Co-Produktion von Florian Sievers und mir, bei der ich zum ersten Mal mitproduziert habe. Die Pandemie hat zudem die Themen des Albums beeinflusst.
Inwiefern?
Ich hatte einfach sehr viel Zeit für mich und habe mich Themen geöffnet, die ich ansonsten vielleicht nicht besungen hätte. Ich war nicht wie sonst ständig unterwegs, nicht abgelenkt. So konnte ich vieles sacken lassen und verarbeiten. Ein positiver Nebeneffekt von dem ganzen Mist.
„Manchmal singe ich mich auch in einen Rausch“
Und an der Motivation, am Album zu arbeiten, hat die Pandemie auch nichts geändert?
Nein. Es war so, dass ich bis März 2020 noch eine Tour gespielt habe und meine Pläne gar nicht groß von der Pandemie durchkreuzt wurden. Ich hatte eh vor, danach an Songs zu schreiben und ins Studio zu gehen. Und die Motivation, Musik zu machen, fehlt mir sowieso nie. Ich schreibe sehr oft Songs und das auch sehr schnell. Während der Pandemie war meine Motivation sogar noch größer, weil ich so viel alleine war und Zeit hatte. Und: Was hätte ich auch anderes machen sollen? (lacht)
Du sagst, du schreibst sehr oft und sehr schnell. Hattest du bestimmte Schreibroutinen für „Nie zur selben Zeit“?
Meine generelle Routine ist, mich an ein Instrument zu setzen und einfach irgendetwas zu machen. Als würde ich alleine jammen. Manchmal sitze ich dann zehn Minuten da, manchmal drei Stunden. Manchmal singe ich mich auch in einen Rausch. Wenn mir irgendetwas von all dem gefällt, nehme ich es als Sprach-Memo auf. Die Memos höre ich mir später alle an und gucke, was ich davon am besten finde. Das ist mal schon ein halber Song, mal nur eine Klaviermelodie. Damit tobe ich mich dann am Computer aus, spiele Chöre ein, auch Bässe. Und dann geht es zu Florian Sievers.
Kraft aus Geschichten
War denn Hamburg wichtig im Entstehungsprozess?
Natürlich! Meine Heimatstadt! Viele Ideen sind mir in Hamburg gekommen. Meine Wahlheimat Berlin ist mir während der Pandemie auch ein bisschen über den Kopf gewachsen, weshalb ich drei Monate in Hamburg gewohnt habe. Es ist mein Zufluchtsort.
Thematisch geht es auf dem Album um alles, was im Zwischenmenschlichen passieren kann: Lieben, Fallenlassen, Trennen, Trauern. Sind alle Songs in den vergangenen zwei Jahren entstanden?
Ja, aber die Geschichten sind nicht nur aus diesen Jahren. „Wo sind die Jahre hin“ zum Beispiel, der letzte Song auf dem Album, handelt von einer Begegnung mit meiner Großtante. Das war vor zehn Jahren, ich war 15. Es war ein Moment, der mir wahnsinnig viel bedeutet. Wir haben uns nie davor und nie danach gesehen, weil sie in Amerika wohnte. Sie war schon sehr alt und krank, aber geistig noch total fit. 82 In ihrem Leben war sie immer unterdrückt worden und hat viele Entscheidungen, die sie getroffen hat, im Nachhinein bereut. Wir saßen in einem Strandkorb im Garten meiner Eltern, sie hat mir die Hände gehalten und gesagt: „Lass dich nicht unterkriegen! Hör auf dein Herz!“ Klingt floskelhaft, aber sie konnte das alles mit Geschichten untermauern. Das hat mir superviel Kraft gegeben, gibt es mir bis heute.
„Diejenigen, die uns das angetan haben, haben uns nicht kaputt gemacht“
Ein Song sticht aus „Nie zur selben Zeit“ heraus: „Schmerz vereint“. Einerseits transportiert er viel Schmerz, andererseits auch viel Stärke. Es geht um die Erfahrung von sexueller Gewalt und die Verbundenheit mit anderen Betroffenen. Es heißt darin: „Ich hab Liebe, die holt mich daraus, ich hab Kraft, die baut sich noch auf, ich hab Mut, du auch.“ Dieser Text klingt so klar und so bei sich. Aber es war bestimmt nicht leicht, die richtigen Worte zu finden, oder?
Ich habe den Song geschrieben, nicht lange, nachdem mir selbst etwas Schlimmes passiert ist. Die Worte sind sehr schnell aus mir herausgekommen. Mir hat nur das Ende nicht gefallen. Ich habe auch nie darüber nachgedacht, den Song zu veröffentlichen. Es war ein Tabuthema für mich, und ich wollte das nicht teilen. Ich war noch gar nicht gefestigt und wollte nicht darüber reden, weil das zu schmerzhaft für mich gewesen wäre.
Irgendwann kam ich aber an den Punkt, als ich angefangen habe, alles zu verarbeiten und zu therapieren. Ich habe gemerkt, dass dieser Song anderen helfen könnte. Also habe ich das Ende umgeschrieben, unter anderem die Zeilen, die du gerade erwähnt hast. Ich habe das Lied nur für Betroffene geschrieben und mich am Ende selbst so stark gefühlt. Ich dachte: Der Mann, der mir das angetan hat, nimmt mir nicht auch noch das, also dass ich den Song anderen Betroffenen schenke. Wir haben alle eine schlimme Erfahrung gemacht, aber: Wir schaffen das! Diejenigen, die uns das angetan haben, haben uns nicht kaputt gemacht.
Sicherlich hast du viel Feedback bekommen von anderen Betroffenen …
… total viel tolles Feedback. Viele haben mir geschrieben, wie sehr der Song ihnen hilft, wie sehr er einfängt, was sie fühlen. Auch dass sie es selbst nicht geschafft haben, diese Erfahrungen so auszudrücken. Das tat so gut. Ich wusste dann: Es war die richtige Entscheidung, den Song zu veröffentlichen.
Am 2. Dezember spielt Lina Maly ein exklusives Redaktionskonzert bei SZENE HAMBURG. Aufgrund der aktuellen Corona-Lage gibt’s das Konzert ab 19 Uhr im Livestream bei Facebook und Instagram.
Live gibt es sie dann wieder am 4. Februar 2022 um 21 Uhr im Knust.
Für alle die noch nicht genug haben, hier kommt das Video zu „Nie zur selben Zeit“:
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