Sozialarbeit auf Hamburgs Straßen: Benthe Müller, Leiterin der Off Road Kids, begleitet die „Disconnected Youth“ – junge und haltlose Menschen – in ein neues Leben.
You got to get up and try, ist auf Benthe Müllers rechten Unterarm tätowiert – eine Philosophie, die sie auch ihren Klienten weitergibt. Seit 2005 leitet sie in St. Georg den Hamburger Standort der Off Road Kids. Die Stiftung setzt sich deutschlandweit für Jugendliche und junge Erwachsene ohne familiären Halt ein und finanziert sich ausschließlich aus Spenden. Rund 2.500 Kinder (von 12 bis 18 Jahren) geraten pro Jahr bundesweit zumindest zeitweise auf die Straße, wie eine Statistik der Off Road Kids belegt. Und 30.000 Volljährige bis Ende zwanzig zählen zur „Disconnected Youth“, den haltlosen jungen Menschen. Diese will die Stiftung mit ihrem Angebot erreichen.
Nicht der leichteste Job
Der leichteste Job ist das nicht: „Die Straßensozialarbeit ist eine Arbeit, die man nicht so einfach abstreift“, erzählt Benthe Müller, „auch nach Feierabend berührt mich vieles, was die Klienten mir erzählen.“ Die Diplom-Sozialpädagogin arbeitete zunächst in der Jugendberufsbildung, dann in der Erwachsenen-Suchthilfe. Der Wunsch, jungen Menschen zu helfen, hat sich durchgesetzt: „Das Gefühl, mit unseren Klienten eine unmittelbare Perspektive erarbeiten zu können, treibt mich an.“
Gegründet wurden die Off Road Kids 1993 im Schwarzwald, waren ein paar Jahre später in Berlin aktiv und führen seit 2005 auch Standorte in anderen deutschen Städten. Seitdem leitet Benthe den Hamburger Zweig. Auch wenn ein großer Teil ihrer Arbeit inzwischen im Büro, auf dem Amt oder in Arztpraxen stattfindet, versuchen sie und ihre Kollegen so oft wie möglich, den persönlichen Kontakt zu den Jugendlichen zu suchen. An vier Tagen der Woche gehen sie für ein paar Stunden raus auf die Straße, zu den beliebten Treffpunkten der Szene. Viele würden sie inzwischen kennen und an Freunde weiterempfehlen, erzählt Benthe. „Das macht den Erstkontakt natürlich einfacher.“
Über ernste Themen würde sie auf der Straße nicht reden, aber man könne ganz einfach nach einer Verabredung zum Kaffee fragen. Oder eines der Täschchen des Projekts „Streetwork+“ verteilen, in dem die Jugendlichen Info-Materialien, Hygiene- und Verhütungsartikel finden.
Die Treffpunkte der Szene sind immer schwieriger zu finden
Inzwischen wissen Benthe und ihre Kollegen, wo die Szene-Treffpunkte sind: Der Hauptbahnhof, Altona, aber auch die Schanze und der Kiez sind beliebte Aufenthaltsorte. Oft dort, wo die Ausreißer in der Großstadt ankommen. „Wobei wir manchmal ein bisschen hinterherrennen“, seufzt Benthe. Früher hätte sich die Szene zu festen Uhrzeiten an öffentlichen Orten versammelt. „Wenn ich freitags um 16 Uhr bei McDonald’s im Hauptbahnhof war, habe ich dort alle getroffen, mit denen ich sprechen wollte.“
Heute ist das anders. An Plätzen wie der Schanze oder den Landungsbrücken sind Punks und Obdachlose nicht gerne gesehen – zu unattraktiv für die Touristen in der Hansestadt. Das Resultat ist eine langsame Vertreibung durch Politik und Bezirke. Aber nur, weil das Problem nicht mehr sichtbar ist, ist es noch lange nicht verschwunden. Je weniger die Kinder und Jugendliche an öffentlichen Orten existieren können, desto schutzloser werden sie. Für die Streetworker von den Off Road Kids und anderen sozialen Einrichtungen ist es deswegen zunehmend schwieriger, sie im realen Leben zu finden.
Viel läuft inzwischen über Chatrooms und Soziale Medien. Auch die Off Road Kids mussten sich dem Trend anpassen, und betreiben inzwischen eine anonyme Onlineberatung. Diese notwendige Sozialarbeit würden in Hamburg auch noch viele andere tolle Einrichtungen machen, findet Benthe. „Aber in den Ebenen darüber, in der Politik und Wirtschaft, spüre ich häufig ein Unverständnis und eine Abneigung gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen.“ Von der Stadt Hamburg würde sie sich mehr Unterstützung wünschen, beispielsweise im sozialen Wohnungsbau.
Was bewegt junge Menschen ihr Zuhause zu verlassen?
Aber was bewegt junge Menschen dazu, ihr Zuhause zu verlassen und auf der Straße zu leben? „Es gibt keinen Grund, den es nicht gibt“, so Benthe. Von Scheidungen, dem neuen Partner eines Elternteils bis hin zu Missbrauch oder Gewalt – all das kann dazu führen, dass sich Jugendliche in die Obdachlosigkeit begeben. „Solche Brüche passieren oft in einer Zeit, in der sehr viel mit einem jungen Menschen passiert“, erklärt die Pädagogin.
Pubertät, Zukunftszweifel oder Leistungsdruck in der Schule würden sie eh schon beschäftigen. Wenn dann noch Stress zu Hause hinzukomme, könnten Jugendliche das nicht mehr so leicht kompensieren. Die Szene der Großstädte bietet ihnen oft Anonymität und das Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein. Aber die romantische Vorstellung der absoluten Freiheit der Straße ist für viele schnell vorbei – obdachlos zu sein, ist ein Überlebenskampf. „Was muss das für eine Stärke sein, sich täglich auf der Straße durchzuschlagen?“, fragt sich Benthe ständig.
Für sie ist es essenziell, genau diese Stärke in ihren Klienten zu finden, und sie ans Tageslicht zu befördern. „Unglaublich, was für ein Strahlen aus diesen jungen Menschen kommen kann“, wie sie findet. An der Vergangenheit ihrer Klienten hängt sie sich nicht lange auf. „Was ich hier tun kann, ist nach vorne schauen.“
„Ich bin nur das Sicherheitsnetz“
Der erste Ansatzpunkt ist meistens eine Notunterkunft. Zuerst muss Ruhe einkehren, ein Ort gefunden werden, von dem aus die Jugendlichen in den Tag starten können. Dann geht es für viele zur Behörde: Wer lange auf der Straße lebt, hat keinen Ausweis mehr, und ohne diesen lassen sich wiederum keine Gelder beantragen. Außerdem kümmern sich Benthe und ihre Kollegen um die Gesundheit ihrer Klienten, die durch Alkohol- oder Drogenkonsum oft in Mitleidenschaft gezogen wurde. Grundlegend ist bei ihrer Arbeit aber vor allem eins: Der junge Mensch muss den ersten Schritt machen und die Hilfe annehmen.
„Wir wollen unseren Klienten das Gefühl geben, dass sie selbst der Motor sind. Ich bin nur das Sicherheitsnetz.“ Viele der Jugendlichen, die zur Beratung kommen, haben bereits eine Vorstellung von ihrer Zukunft. Eine Wohnung wünschen sich viele, einen Abschluss, einen Ausbildungsplatz oder festen Job. Benthe erzählt von einem Punk, den sie einmal betreut hat. „Wo siehst du dich in zehn Jahren?“, fragte sie ihn im Gespräch. Er sah sich in einem Haus in seiner Heimat, mit einer Frau und Kindern, die er eigenständig versorgen kann – diese Zukunftsentwürfe sind für viele selbstverständlich.
Aber wer früh den familiären Halt verloren hat, auf der Straße gelebt oder in der Jugendhilfe gelandet ist, dem fehlt eine entscheidende Basis auf der er reifen kann. In einer intakten Familie darf jeder scheitern, ohne die Liebe oder Unterstützung zu verlieren. Aber wenn ein junger Mensch in der staatlichen Jugendhilfe einen Fehler macht, bekommt er eben diese Unterstützung nicht mehr, sondern fliegt im schlimmsten Fall aus dem Programm. „Die Jugendhilfe, die sanktioniert“, erklärt Benthe.
Scheitern erlaubt
Auch wenn ihre Schützlinge mal zurückfallen, greift sie ihnen weiterhin unter die Arme, begleitet sie Schritt für Schritt, bis sie unabhängig vom Sozialsystem leben können. Dass dieses Konzept funktioniert, zeigen die Zahlen: Rund 5.000 Jugendlichen und jungen Erwachsenen bundesweit konnten die Off Road Kids nach eigenen Angaben bereits helfen, in Hamburg sind es über 900.
Bei der Frage, ob ihr einige davon besonders in Erinnerung geblieben sind, muss Benthe schmunzeln: „Viele.“ Eine Klientin, die sie seit elf Jahren kennt, ist inzwischen 27 – und hat als beste Absolventin in Hamburg eine Ausbildung mit Auszeichnung abgeschlossen. „Das erfüllt mich voller Stolz.“ Das Potenzial sei da, erklärt Benthe, es wäre nur verschüttet unter schlechten Erfahrungen. Aber es würde sich lohnen, dranzubleiben, denn: „Jeder Mensch lohnt sich!“
Text: Sophia Herzog
Dieser Text stammt aus SZENE HAMBURG Stadtmagazin, August 2018. Das Magazin ist seit dem 28. Juli 2018 im Handel und zeitlos in unserem Online Shop oder als ePaper erhältlich!
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