Shi Heng Yi: „Löse dich von der Idee, das Leben wäre leicht“

Shi Heng Yi ist der leitende Meister des Shaolin Temple Europe, einem buddhistischen Orden im rheinland-pfälzischen Otterberg. Nun hat der 40-jährige Kung-Fu-Meister all das Wissen, das er sich im Laufe seines Lebens angeeignet hat, in einem Buch festgehalten: „Shaolin Spirit“. Ein Interview über mentale Stärke, Leidensfähigkeit und chinesische Kultur in Deutschland
„Kung Fu ist, was mir das Leben ermöglicht“: Shi Heng Yi (©Fotoschmied.de)

SZENE HAMBURG: Shi Heng Yi, Sie sind der leitende Meister des Shaolin Temple Europe. Was genau tun Sie dort?

Shi Heng Yi: Als leitender Meister unterrichte ich die Schüler des Klosters und gebe in Absprache mit den weiteren lehrenden Meistern die Richtlinie der Methoden und Praktiken vor, um zur rechten Zeit die rechten Fähigkeiten zu entwickeln.

Sie haben nun ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Shaolin Spirit“. Was genau muss man sich darunter vorstellen?

Einen Spirit, einen Geist, sieht man in der Regel nicht. Daher wäre eine Vorstellung davon nicht hilfreich. Was ohne äußere Form auskommt, ist das, was wir innerlich verspüren – sei es erfüllt mit Kraft oder erfüllt mit Trauer. Es geht daher um die innere Welt, die uns durch das Leben begleitet.

Auch Tugenden wie Disziplin, Ausdauer, Geduld und Demut können hilfreich sein

Shi Heng Yi

Das Buch liefert ja auf Basis Ihres eigenen Lebensweges Werkzeuge, um sich das Leben leichter zu machen. Was genau war es in Ihrem Leben, das Ihnen am meisten geholfen hat, Ihr Leben zu meistern?

Einen Ankerpunkt – genauer: eine Praxis – in den Alltag integriert zu haben, die auf mehreren Ebenen unseres Menschseins wirkt. Das bedeutet, ein Werkzeug, Methoden und Praktiken an der Hand zu haben, um außer Balance Geratenes wieder harmonisch auszurichten. Je höher die eigene Bewusstheit über einen selbst hierbei kultiviert ist, desto wirksamer und tiefgreifender können die Adjustierungen ausfallen. Daher führt die Praxis erst zu einem gesteigerten Körperbewusstsein und erstreckt sich dann auch in tiefliegendere Ebenen wie dem Bewusstsein über die eigenen Gedanken, Gefühle und den Geist.

Es geht im Buch außerdem insbesondere darum, zu mehr innerer Stärke zu gelangen. Warum ist das wichtig?

Stärke ist nicht zu jedem Zeitpunkt und innerhalb jeder Situation zum Vorteil. Zur rechten Zeit die rechte Handlung zu vollziehen, bildet jedoch ein gutes Fundament für jedes Vorhaben. Innere Stärke zu entwickeln ist nur eine von vielen weiteren Qualitäten, die wir Menschen an und in uns entwickeln können.

Körperliche und mentale Stärke

Können Sie mal in Grundzügen erklären, wie man dort hinkommt – zu mehr innerer Stärke?

Das Grundprinzip ließe sich mit zwei Punkten zusammenfassen: 1. Lerne Leid und Schmerz zu ertragen und diese zu überwinden. 2. Löse dich von der Idee, das Leben wäre leicht. Sowohl im körperlichen Training als auch in den Praktiken zur Entwicklung mentaler Stärke geht es oftmals um das Überwinden der eigenen Vorstellungen zugunsten der Ungewissheit und des Diskomforts.

Beim Durchsehen Ihres Buches fällt auf, dass die mentale Stärke scheinbar immer mit der körperlichen einhergeht. Warum ist das so?

„Shaolin Spirit“ vo Shi Heng Yi, O.W. Barth, 288 Seiten, 28 Euro (©O.W. Barth)

Mentale Stärke lässt sich als eigenständiges Element nicht darstellen oder präsentieren. Sie benötigt eine „sichtbare“ Form, die mit dieser Stärke erfüllt ist. Diese Form kann beispielsweise der Körper sein. Statt innere „mentale“ Stärke zu suchen oder zu versuchen, diese direkt zu kultivieren – weil wir eben nicht wissen, wo sie sich befindet –, nutzen wir den Körper als Instrument, um die Qualität der mentalen Stärke auszudrücken. Dies bildet zugleich ein Kernelement der Empfehlungen des Buches: Nutze deinen Körper, um zum Geist zu gelangen.

Das Geheimnis innerer Stärke, so steht es auch in Ihrem Buch, basiert ja auf Tugenden der Shaolin. Welche sind das genau?

Es ist weniger ein Geheimnis als die Einsicht und die damit einhergehende Konsequenz, dass das Vorhandensein von innerer Stärke in sehr vielen Lebensbereichen – vor allen Dingen außerhalb der Kampfkünste und des Trainings – von enormem Vorteil sein kann. Um diese Qualität zu entwickeln bedarf es der richtigen Methoden, außerdem können auch Tugenden wie Disziplin, Ausdauer, Geduld und Demut hilfreich sein.

Warum war es Ihnen ein Anliegen, das in einem Buch festzuhalten?

Menschen legen schon seit jeher sehr viel Augenmerk auf Offensichtlichkeiten, äußerlich attraktive Phänomene und beurteilen daher oftmals ausschließlich basierend auf externen, also sichtbaren Dingen. Mit diesem Buch geht es mir darum, dass Äußerlichkeiten – die Welt der Formen – lediglich fünfzig Prozent – tatsächlich sind es weit weniger – der vermeintlichen Wahrheit ausmachen. Ein immenser Teil liegt verborgen in den Dingen, die wir nicht auf Anhieb sehen, jedoch erfühlen können.

Shaolin-Lehren

Wie schafft man das?

Ohne Einbeziehung aller uns Menschen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Gestaltung unseres Lebens verbleiben wir stets unterhalb dessen, was wir erreichen können. Es ist daher an der Zeit, dass diese Nachricht die Menschen erreicht.

Was erfährt man in Ihrem Buch, was in anderen Büchern zum Thema bisher noch nicht stand?

Ich habe keine anderen Bücher gelesen, daher kann ich das nicht sagen.

Die Lehren der Shaolin, die die Grundlagen Ihres Buches sind, sind bereits 1500 Jahre alt. Inwiefern sind die in der heutigen Zeit überhaupt noch anwendbar?

Das Kernelement der Shaolin-Lehren richtet sich in Grundzügen nach den buddhistischen Traditionen, insbesondere der Chan-Tradition. Fernab von jeglichen religiösen Ansichten, die individuell jeder Mensch für sich bestimmen kann, geht es in der Chan-Tradition insbesondere um die Kultivierung von hilfreichen mentalen Fähigkeiten, die uns in der Bewältigung des Lebens dienlich sein können. Dazu gehört beispielsweise das Mindern leidvoller Erfahrungen und Ansichten.

Es geht also weder um die Kampfkunst noch um Religion?

Genau. Im Vordergrund steht – auf den Punkt gebracht –, ein Leben zu führen, das nicht nur für mich dienlich und lebenswert ist, sondern bei dem ich meinen Beitrag leisten kann, damit es schrittweise und stetig auch meinem Umfeld so ergeht.

Universelle Einsicht ins Menschsein

Die Lehren der Shaolin stammen ja aus China. Sind die denn hierzulande, in einer vollkommen anderen Kultur, überhaupt anwendbar?

Die Worte, Metaphern, Konzepte und Erklärungsmodelle sind sicherlich durch die fernöstliche Kultur geprägt. Meine Eltern wurden in Vietnam geboren, sind in Laos aufgewachsen und anschließend nach Deutschland geflüchtet. Geboren wurde ich in Deutschland und habe viele Jahre auch im Ausland verbracht. In den Lehren geht es aber nicht um Kultur. Es geht um den Menschen, bestehend aus Körper und Geist. Der Kern dieser Lehren kennt keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, da die Prinzipien nicht auf Glauben beruhen, sondern durch Beobachtung des Menschen und seiner Natur zustande gekommen sind. Es ist daher eine universelle Einsicht in das Menschsein, das fernab jeglicher Nationalität anwendbar ist.

Welchen Stellenwert haben die Lehren der Shaolin heutzutage noch in China?

Das kann ich leider nicht beantworten, da mein Fokus in den vergangenen Jahren eher darauf ausgerichtet war, zu ändern, was ich ändern und durch eigene Taten unmittelbar umsetzen kann.

Wenn man hierzulande Shaolin hört, denkt man in erster Linie an Kung Fu. Spielt das in Ihrem Buch eine Rolle?

Kung Fu bezeichnet eine besondere Sparte innerhalb der chinesischen Kampfkünste. Im wörtlichen Sinne bedeutet Kung Fu, durch Mühe beziehungsweise harte Arbeit eine Fähigkeit zu entwickeln. Diese Mühe ist es, die in zahlreichen Beispielen, Übungen und Kapiteln weiter erläutert werden und schließlich in Bezug auf die eigene Lebensführung gesetzt werden. Daher spielt Kung Fu nicht nur ebenfalls eine Rolle, sondern zählt zu einer Hauptpraxis entlang dieses Lebensweges.

Durch Begrenzung zu Entwicklung

Sie selbst praktizieren Kung Fu, seit sie vier Jahre alt sind und haben mit 18 Jahren die Meisterprüfung absolviert. Welche Bedeutung hat Kung Fu in Ihrem Leben und wie hat es Ihr Leben bereichert?

Mein Leben ist geprägt durch Kung Fu. Kung Fu ist, was mir das Leben ermöglicht.

Bei Shaolin denkt man neben Kung Fu an Mönche, was hierzulande häufig mit Entbehrungen verbunden wird. Empfinden Sie Ihr Leben als eines, das mit vielen Entbehrungen einhergeht?

Ich bezeichne und sehe mich nicht als Mönch, lebe als leitender Meister innerhalb des Klosters und praktiziere die Lehren. Damit einhergehend ist der augenscheinliche Verzicht auf viele „Normalitäten“ der heutigen Gesellschaft. Ohne Begrenzung gibt es aber keine Entwicklung. Es ist wesentlich zielführender, Regeln zu verstehen als diesen blind zu folgen. Regeln dienen den Menschen, nicht umgekehrt.

Sie sind überzeugt davon, dass die Welt eine bessere wäre, wenn mehr Menschen nach den Tugenden der Shaolin leben würden. Inwiefern?

Entwickelte Tugenden werden zu einem Bestandteil des eigenen Seins. Egal, wo das Leben uns hinführt, ist es beruhigend zu wissen, dass es einen Teil in mir gibt, der verwurzelt und unerschütterlich ist, unabhängig von den äußeren Gegebenheiten. Das ist der Wert der Tugenden.

Shi Heng Yi: „Shaolin Spirit“, O.W. Barth, 288 Seiten, 28 Euro

Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 11/2023 erschienen.

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