Vom 4. bis 22. August 2021 wird die „Togetherness“ beim Internationalen Sommerfestival Kampnagel mit prall gefülltem Programmplan gefeiert
Text: Sören Ingwersen
Zwei nackte Menschen schmiegen sich im öffentlichen Raum der Stadt aneinander – in ihrer intimen Begegnung wie abgekoppelt vom Rest der Welt. Lässt sich ein deutlicheres Bild finden für die drängende Sehnsucht, Corona endlich hinter sich und die Nähe zum anderen wieder schutzlos zuzulassen? „This Is Not Normal“ nennt das Konzeptkunst-Duo Juan Dominguez & Arantxa Martínez seine Performance lebendiger Skulpturen, die im Rahmen des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel an verschiedenen Orten der Hamburger Innenstadt für Überraschungen sorgen dürften. Ein so vielfältiges und umfangreiches Programm wie in diesem Jahr hat Festivalchef András Siebold schon lange nicht mehr aufgetischt: „Das hat damit zu tun, dass wir eine Akkumulation aus wegen Corona verschobenen, neu geplanten und zusätzlichen Projekten haben, die durch umfangreiche Fördermittel des Programms ,Neustart Kultur‘ und des Fonds Darstellende Künste möglich wurden. Dazu kommt noch der von Carsten Brosda ausgerufene ,Hamburger Kultursommer‘, in dessen Rahmen wir praktisch noch ein Extra-Festival mit 14 Projekten im Stadtzentrum machen.“
13 Uraufführungen
Das Kernprogramm findet aber wie gewohnt auf den Kampnagel-Bühnen statt. Allein hier werden fünf Uraufführungen gezeigt, acht weitere verteilen sich auf das Stadtgebiet. Dass das Festival diesmal so viele Welt- und Deutschlandpremieren verzeichnet, ist für Siebold eine unmittelbare Reaktion auf die Pandemie, „weil sich viele Menschen, die bei uns auftreten, mit der Gegenwart beschäftigen“. Und die bot in den vergangenen 15 Monaten für Kulturschaffende in der Tat genügend Reibungspunkte, an denen sich die Kreativität entzünden konnte. Das gilt auch für die kanadische Sängerin Leslie Feist, die das Sommerfestival eröffnet: „In normalen Zeiten spielt Feist Konzerte vor Tausenden von Menschen.
Durch Corona gab es plötzlich keine Auftrittsmöglichkeiten mehr. Jetzt wird sie die Bühne zurückerobern und sich wieder an eine Art ,communal joy‘ herantasten: In ihrer Produktion ,Multitudes‘ steht sie mit dem Publikum auf der Bühne und singt ins leere Theater hinein.“
Auch die Deutschlandpremiere „Licht und Liebe“ der norwegischen Theatergruppe Susie Wang kann im Kontext der Pandemie gelesen werden: Zwei deutsche Urlauber erleben, wie sich ihr exotisches Urlaubsparadies durch übernatürliche Kräfte in einen Hort des Horrors verwandelt. Klingt böse, ist aber lustig. Komische Regieeinfälle konterkarieren auch den Titel von Christoph Marthalers Inszenierung „Das Weinen (Das Wähnen)“ nach Texten von Dieter Roth. Mit seinen Schimmelbildern betonte der Schweizer Künstler die ästhetische Komponente biologischer Zerfallsprozesse. Marthaler wiederum lässt Roths Sprachkunst im keimfreien Raum einer Apotheke – und im beschwörenden Tonfall von Mozarts Requiem – aufblühen.
Ebenfalls mit einem Schweizer Autor setzt sich die französisch-österreichische Bühnenkünstlerin Gisèle Vienne in „Der Teich“ von Robert Walser auseinander. Der verstörende Psychotrip in den Kopf eines Jungen, der seiner Mutter gegenüber einen Selbstmord vortäuscht, wird mit zwei Schauspielerinnen, Elementen des Puppentheaters und einer mächtigen Bildersprache in Szene gesetzt.
Von Illusionen bis Schwyzerdütsch
Des Weiteren kann man mit den „Illusionen“ der drei Meisterzauberer Patrick Folkerts, Jan Logemann und Manuel Muerte dem Wesen der Täuschung auf den Grund gehen, das Ballet national de Marseille mit vier neuen Arbeiten erleben oder in die Fantasiewelt der belgischen Künstlerin Miet Warlop eintauchen, die mit ihrem anarchischen Bühnenhappening „After all Springville“ die Tücken des Objekts und der menschlichen Gemeinschaft erkundet. Und natürlich kommen auch Freiluftfanatiker im „Avant-Garten“ auf dem Kampnagel-Gelände wieder voll auf ihre Kosten: „Aufbauend auf den Erfahrungen im letzten Jahr, als wir draußen zum ersten Mal in größerem Stil Bühnen aufgebaut und Konzerte gemacht haben, haben wir unser Outdoor-Angebot im neuen Amphitheater, auf der Kanalbühne und auf weiteren Spielflächen noch erweitert. Die Gruppe JAJAJA wird jeden Abend ab 18.30 Uhr mit wechselnden Gästen Performances veranstalten, dazu kommen ein ausuferndes Konzertprogramm, Lesungen und Diskussionen wie ein Abend über Hate Speech mit Spiegel-Online-Kolumnistin Margarete Stokowski, Conférencier und Autor Michel Abdollahi und ZDF-Korrespondentin Nicole Diekmann“, verrät Siebold. Zusätzlich gibt es am Wochenende nachmittags ein Kinderprogramm. Außerdem hat man vier Veranstaltungen wieder zusammen mit und in der Elbphilharmonie ausgerichtet. So reist SingerSongwriter Rufus Wainwright diesmal mit seiner Schwester Martha an, um der 2010 verstorbenen gemeinsamen Mutter, der Folk-Sängerin Kate McGarrigle, mit eigenen und gecoverten Songs ein musikalisches Denkmal zu errichten, das zugleich eine Hommage an alle Mütter ist. Eine besonders reizvolle Verbindung sind auch Dino Brandão, Faber und Sophie Hunger für ihr aktuelles Programm „Ich liebe dich“ eingegangen. Die fein gesponnenen Lieder auf Schwyzerdütsch bilden für András Siebold „wahrscheinlich eines der schönsten Lockdown-Alben, die im letzten Jahr herausgekommen sind“. Überzeugen kann man sich davon im Großen Saal der Elbphilharmonie, wo die drei für lyrisch-intime Momente sorgen werden.
Das Kampnagel Sommerfestival zu Gast in der Stadt
Der „Brückenschlag zwischen dem eher klassischen Programm der Elbphilharmonie und dem eher popkulturell infizierten Programm auf Kampnagel“, wie Siebold die jährliche Kooperation der Festivalpartner beschreibt, strahlt derweil auch auf andere Bereiche ab. So ist in diesem Jahr auch die St.-Gertrud-Kirche in Uhlenhorst ein Spielort, an dem die klassische Musikkultur sich mit zeitgenössischen Ansätzen paart: Das Vokalensemble Graindelevoix aus Antwerpen feiert „The Liberation of the Gothic“ mit englischer Renaissancemusik und überraschender Besetzung: Anders als im 16. Jahrhundert, singen hier auch Frauen und man legt Wert auf den individuellen Ausdruck der beteiligten Stimmen. Ebenfalls dem Experiment verpflichtet sind Gewandhausorganist Michael Schönheit und Multiinstrumentalist P. A. Hülsenbeck, wenn sie im Kirchensaal auf der Grundlage musikalischer Improvisation die sakrale Klangsprache mit der des Pop verweben.
Vom Gotteshaus zum Konsumtempel: Im Gebäude des ehemaligen Kaufhofs in der Mönckebergstraße entfesselt das Hamburger Kollektiv LIGNA „Die Gespenster des Konsumismus“ mit einem performativen Audiowalk. „Es gibt kein besseres Symbol für die durch die Pandemie verschärfte ökonomische Krise als den leer stehenden Kaufhof “, findet Siebold. „Aber auch Diskurse über die Veränderung der Lebenswelten und die Zukunft der Innenstädte konzentrieren sich in dem Gebäude.“ Eine Änderung der Perspektive auf bestehende Lebenswelten fordert dagegen Yolanda Gutiérrez, wenn sie mit Videomappings und Performances rund um die Bismarck-Statue die deutsche Kolonialgeschichte aufrollt, während Nesterval & Queereeoké mit „Sex, Drugs & Budd’n’Brooks“ im Club Uebel & Gefährlich Thomas Manns Roman „Buddenbrooks“ mit einem immersiven Theater-Game der bürgerlichen Spießigkeit entreißen. „So viele Impulse und Motivationsanker für freie Künstler*innen wie durch die Corona-Hilfen hat es in Deutschland wohl noch nie gegeben“, freut sich Siebold. Freuen können sich auch die Besucher des Internationalen Sommerfestivals.
4.–22.8., Kampnagel; kampnagel.de/sommerfestival