Stockheaded Peter: Kein Kinderparadies, nirgends

Junk­-Opera in Perfektion: „Shockheaded Peter“ am Thalia Theater; Foto: Fabian Hammerl
Junk­-Opera in Perfektion: „Shockheaded Peter“ am Thalia Theater; Foto: Fabian Hammerl

Mit über 500 (!) Auflagen ist „Der Struwwelpeter“ eines der erfolgreichsten Kinder­bücher. Es wurde nicht nur in zahlreiche Sprachen über­ setzt, sondern auch zigfach interpretiert. Besonders unterhaltsam ist die britische Bühnenadaption „Shock­headed Peter“. Damit eröffnet das Thalia Theater die neue Spielzeit

Text: Dagmar Ellen Fischer

Sie dürfen in der Nase bohren, schreien und toben – und niemand nervt sie mit Verboten: Fünf Kinder hausen ohne Eltern irgendwo im Abseits und erziehen beziehungsweise bevormunden sich gegenseitig. Ihr großes Vorbild: „Der Struwwelpeter“. Oder genauer: „Shockheaded Peter“. Denn was im berühmt-berüchtigten deutschen Kinderbuch aus dem 19. Jahrhundert noch als Mahnung und Drohung für Heranwachsende gedacht war, verwandelt sich in der englischen Bühnenbearbeitung ins  genaue Gegenteil. Motive des Buches – wie den Zappelphilipp, den Suppenkaspar und den am Daumen lutschenden Konrad – verarbeiteten Julian Crouch und Phelim McDermott zur sogenannten Junk-Opera. Die Musik komponierte Martyn Jacques, Gründer der Londoner Kultband „The Tiger Lillies“.

Eine Erfolgsgeschichte

Seit der Uraufführung 1998 schreibt das Musiktheaterstück international Erfolgsgeschichte, für Bühnen hierzulande mussten die Texte natürlich wieder in die Sprache des Kinderbuchautors, des Psychiaters Dr. Heinrich Hoffmann, rückübersetzt werden. Was kaum jemand weiß: 1845 verfasste Dr. Hoff- mann den „Struwwelpeter“, weil er auf der Suche nach einem Bilderbuch für seinen dreijährigen (!) Sohn nicht fündig wurde; später schrieb er weitere Veröffentlichungen sogar unter dem Pseudonym Peter Struwwel! Seine Furcht einflößenden, drastischen Schicksale versprechen im Untertitel des Originals „Lustige Geschichten und drollige Bilder“. In „Shock- headed Peter“ aber übertreiben die Macher vieles bis zur Groteske und erzählen makabre und blutrünstige Storys voll schwarzem, britischem Humor.

Die Inszenierung: Prominent besetzt

Vor gut zwanzig Jahren holte sich das Hamburger Schauspielhaus die deutschsprachige Erstaufführung. Für das Thalia Theater inszenierten in diesem Jahr Peter Jordan – ehemaliges Ensemble-Mitglied – und Leonhard Koppelmann, mehrfach ausgezeichneter Hörspielregisseur, ihre Version. Die hatte im März Streaming-Premiere und wird im August die nächste Spielzeit live auf der Bühne eröffnen. Hier spielen Julian Greis, Merlin Sandmeyer, Cornelia Schirmer, Cathérine Seifert und Victoria Trauttmansdorff die fünf verwahrlosten Kinder. Jedes Einzelne wohnt in einem kleinen eigenen Areal in, über und vor einem Etagenbett. Greis in der Rolle als größtes Kind übernimmt eine Führungsfunktion, er ist der unbeliebte neue Bestimmer, die anderen nennen ihn Chef. Er stimmt die „Shockheaded Peter“-Hymne an auf das bewunderte Idol, das sich weigerte, Haare und Nägel zu schneiden. Eine Jüngerin (Cornelia Schirmer) betet: „Er ist unser Held, unser Gott, unser Erlöser und Leiter. Er ist der Herr der verlorenen Kinder.“

Es überlebt niemand

Die Songs bleiben in englischer Sprache, und da die meisten Figuren ohnehin bekannt sind, ist „Thumbsucker“ so klar wie Daumenlutscher. Trauttmansdorff beispielsweise verkörpert das Mädchen mit der fatalen Vorliebe für Streichhölzer; in ihrer Moritat beschreibt sie, wie das Feuer ausbricht – wofür sie von ihrem sexistischen Onkel noch gezüchtigt wird, bevor sie in Flammen steht. Geht’s bei Hoffmann recht brutal zu, so endet doch nicht jedes der abschreckenden Beispiele tödlich. In der Junk-Opera aber überlebt niemand. Hier ist der zappelige Philipp (Sandmeyer) ein stotterndes, hyperaktives Kind mit mehreren Tics; nachdem seine unkontrollierbaren nervösen Zuckungen Geschirr und Besteck des gedeckten Tischs mit in die Tiefe gerissen haben, stecken einige Messer und Gabeln im am Boden liegenden, sterbenden Jungen. Auch den bösen Friederich erwischt es am Ende, schillernd besungen von Seifert: Wird der sadistische Kerl im Buch nur mit einem Hundebiss bestraft, so heißt es auf der Bühne gut gereimt „Fred is dead!“ Schließlich gesteht die große Schwester von Hans-Guck-in-die-Luft, dass sie keine Lust mehr hatte, immer auf den blöden Bruder aufzupassen, und so ertrank er halt. Alle eint die trotzige Rebellion gegen elterliche Ordnung. Doch eines Tages zweifeln die Outlaws an ihrem (selbst ernannten) Führer und stellen unbequeme Fragen …

Die großartige Musik der Tiger Lillies trägt den 80-minütigen Abend maßgeblich dank einer Mischung aus Punk und Jazz, Balladen und Bänkelliedern.

„Shockheaded Peter“ im Thalia Theater, 21.8. (Premiere), weitere Termine bis 30.9.


 SZENE HAMBURG Stadtmagazin, August 2021. Das Magazin ist seit dem 29. Juli 2021 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!

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