Ties Rabe (SPD) ist seit 2011 Hamburgs Schulsenator. Im Interview spricht er über die Integration von Geflüchteten, die Digitalisierung und das Nachwuchsproblem bei den Lehrer:innen
Interview: Mirko Schneider
SZENE HAMBURG: Herr Senator, an Hamburgs Schulen herrscht keine Testund Maskenpflicht mehr. Wie glücklich sind Sie damit?
Ties Rabe: Ich finde es richtig, dass an den Schulen dieselben Regeln gelten wie in anderen Lebensbereichen. Die Menschen dürfen ihre Freizeit bis auf wenige Ausnahmen ohne Test- und Maskenpflicht gestalten. Also wären derartige Einschränkungen in der Schule falsch.
Worin sehen Sie die größte Herausforderung für die Schulen in diesem Winter?
Im hohen Krankenstand der Lehrkräfte sowie der Schülerinnen und Schüler. Öffentliche Angebote in bestimmten Bädern oder in Restaurants müssen ja teilweise schon eingeschränkt werden. An den Schulen stehen wir vor der großen Herausforderung, den Schulbetrieb mit voller Kraft aufrechtzuerhalten.
„Eine Entscheidung sollte erst fallen, wenn sich die derzeitige Situation etwas entspannt“
Eine weitere Herausforderung für die Hamburger Schulen besteht in der Integration der ukrainischen Flüchtlingskinder. Wie gewaltig ist diese Aufgabe?
Aktuell haben wir seit Beginn des Krieges 6.200 Kinder und Jugendliche allein aus der Ukraine aufgenommen. Das entspricht beispielsweise der gesamten Schülerzahl in Wilhelmsburg. Nach neuesten Schätzungen werden wir zusammen mit den Flüchtlingskindern aus weiteren Ländern in diesem Jahr 9.000 Kinder ins Hamburger Schulsystem integrieren. Die Krise ist größer als bei der Flüchtlingswelle 2015. Doch während damals auf vielen Ebenen der Eindruck vermittelt wurde, wir stünden kurz vor dem Weltuntergang, so habe ich heute den Eindruck, die aus dieser Lage entstehenden Schwierigkeiten werden in der öffentlichen Debatte eher unterschätzt.
Was tut die Hamburger Schulbehörde, um diese Schwierigkeiten zu meistern?
Wir besitzen eine große Routine darin, neue Willkommensklassen einzurichten. In Hamburg heißen sie internationale Vorbereitungsklassen. Das tun wir in großer Zahl. Alle Schulen rund um die Flüchtlingsunterkünfte sind jetzt ausgelastet. Nun beginnen wir mit einer Verteilung über die ganze Stadt. An Geld mangelt es dabei nicht. Die Fragen lauten eher: Haben wir genügend Räume? Und finden wir genügend Lehrer?
In Hamburg lernen geflüchtete Kinder in Willkommensklassen ein Jahr lang Deutsch, bevor sie den Regelunterricht besuchen. Eine Studie des Leibnitz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Essen basierend auf Hamburger Daten stellt dieses System nun für Grundschulkinder infrage. Der Schluss der Studie: Wer in der Grundschule gleich eine Regelklasse besucht, integriert sich besser. Werden Sie das Hamburger System nun verändern?
Wir nehmen diese Studie sehr ernst. Was die Studie allerdings nicht untersucht, ist die praktische Frage der Umsetzung. Wie kann es funktionieren, ein Kind, das kein Wort Deutsch spricht und keine unserer Schulregeln kennt, sofort in eine Regelklasse zu integrieren? Wir werden uns mit dieser Studie intensiv auseinandersetzen. Nur: Jetzt, wo wir auf dem Höhepunkt einer Krise mit unserer Lokomotive Schule mit Volldampf durch die Lande brausen, sollten wir nicht das Gleis wechseln. Eine Entscheidung sollte erst fallen, wenn sich die derzeitige Situation etwas entspannt.
„Das Problem der Lehrerversorgung ist in Hamburg am geringsten“
Ein Thema, mit dem Sie sich beständig auseinandersetzen müssen, ist Ihr 2019 vorgelegter Schulentwicklungsplan. Er sah vor, bis ins Jahr 2030 44 neue Schulen zu bauen und 123 weitere Schulen baulich zu erweitern. Wie liegen Sie im Plan?
Wir sind gut im Plan. Zwei Unwägbarkeiten existieren allerdings. Die Baukonjunktur in Hamburg ist sehr angespannt. Wir haben große Mühe, Handwerksbetriebe zu finden, deshalb ist es uns nicht gelungen, all das zur Verfügung gestellte Geld für den Schulbau auszugeben. Wir hoffen jetzt auf eine Entspannung der Lage. Außerdem sieht es so aus, als wenn wir insgesamt mit unserer Schülerzahl-Prognose sehr gut hinkommen. In einzelnen Fällen und Stadtteilen muss eventuell nachjustiert werden. Auch hier gilt: Am Geld wird es nicht scheitern. In der ersten Dekade der 2000er-Jahre investierte Hamburg pro Jahr 150 Millionen Euro in Schulbauten. Nun sind es 400 Millionen Euro.
„Schulen in regionalen Randlagen nicht so begehrt bei den Lehrkräften.“
Schulsenator Thies Rabe
Die schönsten Gebäude nützen nichts ohne Lehrkräfte. Die Opposition wirft Ihnen vor, in Hamburg existiere Lehrermangel. Wie sehen Sie die Situation?
Im Vergleich zu den anderen Bundesländern ist das Problem der Lehrerversorgung in Hamburg am geringsten. Wir haben eineinhalbmal so viele Bewerberinnen und Bewerber wie Referendariatsplätze, müssen kaum Quer- und Seiteneinsteiger einstellen. Was stimmt: Die Luft wird auch für Hamburg dünner. Schulen in Stadtteilen, in denen die Kinder aus schwierigen sozialen Milieus oder sozial benachteiligten Elternhäusern kommen, sind ebenso wie Schulen in regionalen Randlagen nicht so begehrt bei den Lehrkräften.
Ein Nachwuchsproblem?
Die CDU fordert einen Vertretungspool, Die Linke eine weitere Erhöhung der Referendariatsplätze. Beide betonen, die Schulbehörde müsse beim Thema Lehrermangel eingreifen …
Wir greifen ein. Wenn an bestimmten Standorten große Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung auftreten, werden wir als Schulbehörde tätig. Wir bitten zum Beispiel Schulen in der Umgebung oder fordern diese sogar auf, ihr Personal an solche Schulen zu schicken, die mit Personalproblemen zu kämpfen haben. Vorrangig sehe ich die Aufgabe der Hamburger Schulbehörde darin, Regeln aufzustellen und Lehrkräfte in einer ausreichenden Zahl auszubilden. Auch deshalb haben wir die Zahl der Referendariatsplätze um 40 Prozent auf 810 erhöht. Alle Regeln des Hamburger Schulsystems infrage zu stellen und grundsätzlich zu überdenken, ist aus meiner Sicht erst dann geboten, wenn alle anderen Wege ausgereizt sind. Ich sehe übrigens noch einen anderen wichtigen Punkt.
Welchen?
Die Lage an den Universitäten. Aus den Universitäten kommen unter 600 Lehrkräfte pro Jahr auf den Hamburger Arbeitsmarkt. Das ist viel zu wenig und muss sich dringend ändern.
„Wir können nicht Digitalisierung fordern und sie gleichzeitig blockieren“
Muss sich auch etwas ändern beim Thema Digitalisierung?
Im Verhältnis zu den anderen Bundesländern gehören wir zu einer kleinen Spitzengruppe. Es gibt in jedem Klassenraum eine digitale Tafel, fast in jedem Klassenraum leistungsfähiges WLAN. Jede Lehrkraft hat von der Schulbehörde ein Tablet oder einen Laptop bekommen, immerhin auch jede dritte Schülerin oder jeder dritte Schüler. Drei Viertel der Schulen verwenden bereits eine einheitliche Lernmanagementplattform. Trotzdem: Dänemark und einzelne baltische Staaten sind weiter als wir. Wir haben aber auch größere Schwierigkeiten als andere Staaten. Nur ein Beispiel von vielen: Wir dürfen in den Schulen aus datenschutzrechtlichen Gründen grundlegende Programme wie Zoom und Microsoft Office nicht verwenden. Darüber müssen wir in Deutschland nachdenken. Wir können nicht Digitalisierung fordern und sie gleichzeitig blockieren.
„Ich wundere mich über die albernen Argumente“
Schulsenator Thies Rabe
Kommen wir noch zu Ihrer Grundsatzrede in der Bürgerschaft vom 4. Juni. „Leistung macht glücklich“ haben Sie gesagt – und damit eine öffentliche Debatte ausgelöst. Wie definieren Sie Leistung?
Leistung definiert die Gesellschaft, nicht ein einzelner Schulsenator. Deshalb definiere ich Leistung so wie jeder Mensch in seinem Berufs- und Privatleben. Schreibt ein Kind einen sechs Seiten langen, weitgehend fehlerfreien Aufsatz, der das Thema trifft, ist das eine bessere Leistung als ein Aufsatz eines anderen Kindes, der das Thema nicht trifft, nur eine Seite lang ist und 33 Fehler hat. Auch beim Sport ist klar: Wer weiter wirft, hat eine bessere Leistung gebracht als jemand, der kürzer wirft. Oder in der Teamarbeit: Wer Menschen mitnimmt und Gemeinschaft stiftet, leistet mehr als derjenige, der ständig Streit anzettelt oder schmollend in der Ecke sitzt. Ich wundere mich schon darüber, mit welchen albernen Argumenten einzelne Schulvertreter so tun, als könnten sie freihändig einen anderen Leistungsbegriff definieren.
„Für mich ist das ein sozialer Skandal“
Die GEW Hamburg kritisierte, Sie seien nur an „abfragbarem Wissen und bildungsökonomischen Rankings interessiert“. Trifft diese Kritik zu?
Im Gegenteil. Mir ist es wichtig, dass Schule endlich sozial gerecht wird. In Deutschland hängt der spätere Lebenserfolg sehr stark davon ab, in welchem Elternhaus ein Kind geboren wird. Für mich ist das ein sozialer Skandal. Er liegt daran, dass die Schule es nicht schafft, den fehlenden Rückenwind vieler Elternhäuser durch gutes und intensives Lernen in der Schule auszugleichen. Für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern ist die Schule oft die einzige Chance, um im Beruf und Studium erfolgreich zu sein.
Deshalb müssen alle Kinder in der Schule gut und intensiv lernen. Sie müssen zum Beispiel richtig schreiben, lesen und rechnen lernen. Kein Unternehmen stellt jemanden nur deshalb ein, weil er ein netter Mensch ist. Als ich deshalb vor fünf Jahren die Rechtschreibung zu einem Kernthema gemacht habe, erntete ich einen Aufschrei der Empörung in Teilen der Schulwelt. Rechtschreibung galt als uncool, unmodern, unwichtig. Doch viele Firmen stellen nur Bewerber ein, die sicher schreiben können. Das Ergebnis meiner Politik: In den Bildungsvergleichen ist Hamburg von Rang 14 der Bundesländer katapultartig auf Rang sechs gestiegen. Auf diesen Erfolg bin ich stolz. Und ich bin froh, hier viele Lehrerinnen und Lehrer auf meiner Seite zu haben.
Mehr Klausuren und weitere Ziele
Wollen Sie auch deshalb mehr Klausuren schreiben lassen, die schriftlichen Leistungen insgesamt aufwerten und Klausurersatzleistungen streichen?
Viele Hamburger Schülerinnen und Schüler haben Probleme in schriftlichen Klausuren. Also wollen wir da etwas tun. Selbst nach unseren Vorschlägen für neue Bildungspläne würden in Hamburg übrigens immer noch nicht so viele Klausuren geschrieben wie in Niedersachsen oder Schleswig-Holstein. Wenn wir weiterhin so wenige Klausuren schreiben, werden unsere Schülerinnen und Schüler auf die vielen Klausuren im späteren Studium oder in den Berufsschulen niemals so gut vorbereitet werden wie die Schülerinnen und Schüler in den Nachbarbundesländern.
Zum Abschluss: Wie blicken Sie auf Ihre bisherige Zeit als Bildungssenator in Hamburg zurück und was möchten Sie noch erreichen?
Ich habe von Anfang an gesagt: Mit Rang 14 im Vergleich der Bildung zwischen den 16 Bundesländern finde ich mich nicht ab. Jetzt stehen wir auf Rang sechs. Mittlerweile wird außerhalb Hamburgs mit großer Anerkennung über unsere Schulen gesprochen. Ich sage aber auch ganz offen: Platz sechs ist schön, aber noch nicht das Ende der Fahnenstange. Alle Kinder sollen in Hamburg ihren Platz und ihre Chancen finden, einen guten Beruf erlernen und an einer besseren Zukunft mitarbeiten können. Zwanzig Prozent unserer Kinder haben immer noch Schwierigkeiten mit den Kernkompetenzen. Da müssen wir besser werden. Dafür werde ich mich weiter mit all meiner Kraft einsetzen.