Mit ihrer eigenen Fassung von Goethes Schauspiel „Stella“ stellt die Berliner Regisseurin und Autorin Amina Gusner Geschlechterrollen auf den Prüfstand und untersucht mit viel Witz – und unter erschwerten Corona-Bedingungen – die kapitalistische Verformung romantischer Liebesmodelle
Interview: Sören Ingwersen
SZENE HAMBURG: Frau Gusner, Sie inszenieren Goethes Drama „Stella“: Cäcilie bittet im Haus von Stella um eine Anstellung für ihre Tochter Lucie. Dort trifft auch Fernando ein. Beide Frauen erkennen in ihm den seit vielen Jahren zurück ersehnten Ehemann beziehungsweise Liebhaber. Ist das Stück noch zeitgemäß?
Amina Gusner: Es geht um Menschen, die von der ständigen Sehnsucht nach Liebe angetrieben werden. Das passt in unsere neoliberalistische Zeit, in der wir immer die höchsten Gefühle haben wollen und enttäuscht sind, wenn sie sich nicht einstellen. Dann müssen wir weitersuchen, bis wir einen besseren Partner finden.
Der ewig suchende Mann und die ewig wartende Frau – unter diesem Aspekt habe ich auch meine eigene Fassung des Stücks erstellt.
Goethe selbst hat den Schluss seines Stücks dreißig Jahre später noch einmal umgeschrieben und quasi ins Gegenteil verkehrt …
Die erste Fassung endet mit einer Liebe zu dritt und wurde ausgebuht. Aber auch die Tragödienfassung, in der Stella und Fernando Selbstmord begehen, kam nicht gut an. „Stella“ war ein echter Flop.
„Ich glaube, dass wir von der romantischen Liebe aus dem 19. Jahrhundert träumen“
Goethe bietet unterschiedliche Liebeskonzepte an. Sind diese eins zu eins ins Hier und Jetzt übertragbar?
Heute stellt man natürlich die Genderfrage: Was ist typisch Mann, was typisch Frau? Ich glaube aber, dass wir immer noch von der romantischen Liebe aus dem 19. Jahrhundert träumen. Die Sehnsucht nach dem Happy End, dem richtigen Mann oder der richtigen Frau sitzt einfach in uns drin.
Ist Goethes Doppelehe aus der Frühfassung ein Happy End?
Auf jeden Fall ist sie sehr modern. Cäcilie hat als Ehefrau einen ziemlich realistischen Blick auf die Sache. Wie viel Sex hat man nach so vielen Ehejahren noch? Sollen sie sich wirklich scheiden lassen, nur weil ihr Mann Fernando mit Stella eine Affäre hat? Stella hat das Geld, das Cäcilie fehlt, und Cäcilie hat das Kind, das Stella fehlt. Warum also nicht eine große WG aufmachen, in der jeder jeden mag und versteht? Das ist die positive Vision einer weitergedachten Patchworkfamilie. Ich kenne Leute, die gar nicht mal so unähnlich leben.
Moderne Geschlechterrollen
Sie haben „Stella“ ja schon einmal im Jahr 2014 inszeniert und an der Neuen Bühne Senftenberg und am Volkstheater Rostock aufgeführt. Nun proben Sie das Stück mit komplett neuer Besetzung …
Und ich inszeniere es auch anders – allein schon wegen Corona. Damals sind die Schauspieler in einem goldenen Käfig aufgetreten und waren deutlich jünger. Heute können wir auch nicht mehr so tun, als gäbe es die #MeToo-Debatte nicht.
Die Gender- und Rollen-Thematik greife ich vor allem mit der Figur von Cäcilies und Fernandos Tochter Lucie auf. Wir erzählen die Geschichte aus ihrer Perspektive. Lucie, die sich erinnert und das Ende erträumt, das sie sich wünscht.
Wenngleich das schöne Ende bei Goethe wie aus dem Hut gezaubert wirkt …
Goethe lässt sich oft schwer spielen, weil er immer lebensphilosophisch oder utopistisch denkt und die
Figuren dadurch oft sehr behauptet und hölzern wirken. Unser Anliegen ist es aber, den Zuschauern das Gefühl zu vermitteln, dass hier ihre eigenen Nachbarn zu ihnen sprechen. Wir wollen verstanden werden und sind dabei, Goethes Sprache für uns zu entdecken und sie so klingen zulassen, als würden sie uns gerade aus dem Maul fallen.
Hört man trotzdem den Originaltext?
Ja, wobei etwa ein Drittel des Textes von mir stammt. Mir war es wichtig, in diesem Zusammenhang das neoliberale Prinzip „besser, mehr und irgendwie schöner“ zu untersuchen. Gründet es in der unserer Biologie, im Narzissmus oder in der Konsumgesellschaft?
Kann es nach diesem Prinzip noch so etwas wie Treue, tiefes Vertrauen und langfristige Bindungen geben?
Das steht alles auf der Kippe. Früher fand ich es immer ganz furchtbar, wenn alte Menschen gesagt haben, Liebe ist auch Arbeit. Heute glaube ich, nirgendwo hat man so viele Möglichkeiten, sich als Mensch zu entwickeln, wie in einer Beziehung.
Niemand ist so ehrlich zu dir, wie dein Liebster – im Guten wie im Schlechten. Ich glaube, wir brauchen es, dass jemand uns spiegelt und wachsen lässt. Wenn ich aber das Interesse an dem anderen verliere, weil er plötzlich nicht mehr so ist, wie ich mir das wünsche, dann ist das auch eine Art Faulheit, an sich selbst zu arbeiten.
Sind die Frauen im Stück bereit, sich auf ihren Partner einzulassen?
Ich denke nicht. Sie wollen gerettet werden. Beiden Frauen wurden verlassen und haben schreckliche Schicksale hinter sich. Stellas Kind ist gestorben, sie lebt fern von ihren Eltern und schrammt latent am Wahnsinn vorbei. Sie ist total fokussiert auf Fernandos Rückkehr und bleibt dabei vollkommen passiv.
Ein sehr klischeehaftes Rollenbild …
Schrecklich! So ein Frauenleben scheint offensichtlich so unwichtig und langweilig zu sein, dass es darüber nicht mal ein Theaterstück gibt. Es gibt nur Stücke über Frauen, die sich in irgendeiner Weise mit Männern beschäftigen, während man den Männern immer tolle Ideen zuschreibt.
Das thematisieren wir auch auf der Bühne. Diese Selbstaufgabe, dieses Gerettet-werden-Wollen mit Liebe zu verwechseln, führt zu unmündigen Frauen, die Fernando gegenüber nur noch hochgradig indirekte Vorwürfe äußern können. Das ist das Klischee der Frau, die Kopfschmerzen hat, weil der Mann sie nicht so liebt, wie sie geliebt werden will. Das alles findet auf einer ganz kindlichen Ebene statt.
Keiner ist erwachsen. Eine neoliberale Gesellschaft, die sehr komisch wirkt, weil man ja auch selbst oft ganz unerwachsen ist und sich da wiedererkennt.
Theater und Corona
Goethe und Humor? Passt das zusammen?
Klar. Es ist wirklich lustig, wie Fernando immer mehr in Not gerät und sich im Laufe des Stücks um Kopf und Kragen redet. Was mir aber auch gefällt: Eigentlich ist es ein Stück für junge Schauspieler, aber bei uns sind alle 45 plus – außer Lucie.
Selten sieht man im Theater Frauen um die 50, die nicht nur die Mütter, sondern komplexe Figuren spielen dürfen. Schön ist aber auch, dass wir einen älteren Fernando haben. Ich stelle mir vor: Wenn der früher in den Raum kam, musste er nur „hallo“ sagen und die Frauen lagen flach. Jetzt muss er sich richtig anstrengen und überzeugt trotzdem nicht.
Sozusagen ein verhinderter Don Juan …
Genau, und das ist extrem witzig. Ich lebe in Berlin-Mitte und die Jungs der 1990er Jahre sind alle mit mir älter geworden. Damals wollten sie cool sein, sich nicht binden und haben geraucht, was das Zeug hielt. Heute sitzen sie immer noch hier herum und sind ganz einsame Wölfe, weil sie niemand mehr umschwärmt. Alles alleinstehende Männer, die den Absprung verpasst haben.
In der Ankündigung zum Stück steht, Sie haben die unterschiedlichen Schlussteile der beiden Fassungen zusammengeführt. Wollen Sie Näheres verraten?
Das soll eine Überraschung bleiben.
Vielleicht nur so viel: Gibt es Tote auf der Bühne?
Vorübergehende Tote. Und auch Blut.
Dann wünsche ich Ihnen, dass die Premiere am 18. Januar trotz Corona stattfinden kann. (Anm. d. Red.: Das Theater ist Corona-bedingt bis 31. Januar geschlossen. Die Premiere von „Stella“ wurde auf den 3. Februar 2021 verschoben.)
Das hoffe ich sehr. In den Theatern wurden die Viren ja überhaupt nicht verbreitet, weil es dort gute Sicherheitskonzepte gibt. Dass die Häuser wieder schließen mussten, ist wirklich eine ungerechte Nummer.
Die Proben sind sicher nicht einfach …
Es ist eine große Herausforderung, ein Stück zum Thema Liebesumklammerungen mit Corona-Abständen
zu proben. Das ist eine total theaterfeindliche Sache, denn auf der Bühne geht es immer um Nähe und Austausch und gemeinsames Kreieren. Ich habe zwar ein tolles Ensemble, das alles ganz tapfer mitmacht, aber das sind Bedingungen, unter denen ich nie wieder arbeiten möchte.
Kammerspiele
03.02.2021, 19:30 Uhr (Premiere)
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