Karin Beier: „Wir verlernen, andere Perspektiven einzunehmen“

Bringt mit ihrer neuesten Inszenierung ein Buch des britischen Bestsellerautors Ian McEwan auf die Bühne: Intendantin Karin Beier; Foto: Florian Raz
Bringt mit ihrer neuesten Inszenierung ein Buch des britischen Bestsellerautors Ian McEwan auf die Bühne: Intendantin Karin Beier; Foto: Florian Raz

„Kindeswohl“: Mit der deutschsprachigen Erstaufführung von Ian McEwans „The Children Act“ lotet Karin Beier die Grenzen unserer Freiheitsrechte aus

Interview: Sören Ingwersen

SZENE HAMBURG: Frau Beier, warum haben Sie sich entschieden, Ian McEwans Roman „The Children Act“ auf die Bühne zu bringen?

Karin Beier: Ich finde diesen Roman brandaktuell. Es werden darin verschiedene Themen verhandelt, die mich seit Langem beschäftigen und die gerade jetzt in der Pandemie wieder mitten ins Zentrum unserer gesellschaftlichen und politischen Debatten gerückt sind. Zum Beispiel der Konflikt unserer Grundwerte, mit dem wir akut zu kämpfen haben: Ist der unbedingte Schutz des Lebens höher anzusetzen als die Würde des Menschen? Wie viel Eingriff von Seiten des Staates in unsere demokratisch garantierten Freiheitsrechte, wozu beispielsweise auch die Religionsfreiheit oder das Recht auf Selbsttötung gehören, sind wir als Gesellschaft bereit zu akzeptieren? Und wer ist wie und für welche Konsequenzen verantwortlich zu machen? Das sind nicht nur juristische, sondern vor allem auch ethische Fragestellungen. Und nicht zufällig ist „Kindeswohl“ der Begriff der Stunde im Zusammenhang mit den staatlichen Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Krise, weil es vor allem immer wieder die Kinder sind, die einen hohen Preis für unsere politischen und zivilgesellschaftlichen Entscheidungen bezahlen.

Ein eigener Zugang

Der Autor Ian McEwan hat auf Grundlage seines Romans ein Drehbuch für die Verfilmung des Stoffs mit Hauptdarstellerin Emma Thompson geschrieben. Nutzen Sie auch diese Vorlage oder wählen Sie und Dramaturgin Sybille Meier einen ganz eigenen Zugang? Und wie sieht dieser aus?

Wir haben natürlich auch die Verfilmung des Romans wahrgenommen, aber auf Grundlage des Romans eine eigene Theateradaption erarbeitet. Dabei war es wichtig, eine Form für diesen Stoff zu finden, der einerseits komplexe psychologische Figuren zeigt und andererseits sehr spannende diskursive Passagen enthält. Wir haben dabei bestimmte Aspekte herausgearbeitet, unter anderem die Frage nach dem Sinn des Leidens, nach unseren Wertvorstellungen und unserem Verhältnis zum Tod.

Im Roman „The Children Act“ ordnet Familienrichterin Fiona Maye eine lebensrettende Bluttransfusion für den 17-jährigen, an Leukämie erkrankten Adam an. Er und seine Eltern haben sich dieser Maßnahme widersetzt, weil sie als Zeugen Jehovas Gottes Wille bedingungslos gehorchen. Wie kommt es, dass Adam schließlich doch die Entscheidung der Richterin akzeptiert?

Zunächst muss sich Adam ja dem Urteil von Fiona Maye und damit dem Gesetz beugen. Emotional und psychisch kommt er da nicht hinterher, er findet die Vorstellung im wahrsten Sinne des Wortes zum Kotzen, dass sich fremdes Blut mit seinem eigenen vermischt. Es fühlt sich für ihn an, als habe er den Speichel eines anderen Menschen getrunken. Doch durch die Begegnung mit Fiona gelingt es ihm, eine Fremdperspektive auf seine eigene Religion einzunehmen, und er kann die Begrenztheit dieses Weltbildes zumindest rational erkennen. Nur leider ist Fiona nicht bereit, die emotionale Lücke zu schließen, die sein Ausschluss aus seiner bisherigen Lebensgemeinschaft bei ihm hinterlässt.

Gibt es Fehler?

Juristisch handelt Fiona korrekt, indem sie das Kindeswohl über das Recht auf Selbstbestimmung stellt. Später wird ihr klar, dass ihre Entscheidung dem jungen Mann alles andere als geholfen hat. Was hat sie falsch gemacht?

Sie hat vielleicht gar nichts falsch gemacht, sondern einfach nur sehr menschlich gehandelt und damit zwangsläufig ein paar juristische Grenzen überschritten. In dem Moment, in dem sie ihr professionelles Umfeld, also den Gerichtssaal, verlässt, um Adam persönlich im Krankenhaus aufzusuchen, nähert sie sich ihm als Mensch oder, besser gesagt, als Frau und eben nicht als distanzierte Richterin. Sie geht eine Beziehung zu ihm ein, die sie dann aber nicht einlösen will. Das kann Adam eigentlich nur missverstehen. Und gerade dieser Aspekt interessiert mich besonders: das Verhältnis von Verantwortung, Gesetz und Individuum. Durch ihr Urteil reißt Fiona Adam aus seiner bisherigen Welt heraus, lehnt aber gleichzeitig eine persönliche Verantwortung ab. Dieser Widerspruch führt Adam letztlich in die Katastrophe.

Für welche Figur im Roman haben Sie die größte Sympathie? Und warum?

Ich möchte gar nicht einseitig für eine Figur Partei ergreifen. Ich habe versucht, allen Charakteren eine gleichwertige, eine plausible Stimme zu geben. Dramaturgisch interessant wird der Konflikt ja erst, wenn ich jede Position nachvollziehen kann, also auch diejenige, die in meinem Leben erst einmal die am weitesten entfernte ist. Das scheinen wir in unserer modernen Welt ja zu verlernen, also was es heißt, auch einmal eine andere Perspektive einzunehmen, die nicht unserer eigenen Vorstellungswelt entspricht. Ich muss ja nicht zwangsläufig am Ende meine Meinung ändern, aber ich muss mein Gegenüber verstehen wollen!

Die Wichtigkeit von Musik

Ein Schlüsselmoment im Roman ist das gemeinsame Musizieren von Fiona und Adam, bei dem sie sich menschlich näherkommen. Welche Rolle spielt die Musik in Ihrer Inszenierung?

Die Musik ist eine ganz wichtige Ebene in meiner Inszenierung. Auf einer Probe haben wir die Arbeit einmal ein „rhetorisches Kammermusikspiel“ genannt, und ich glaube, das trifft es ganz gut. Die Musik ist wie eine zweite Erzählebene über die Emotionen und Zustände der Figuren, die sie nicht verbal miteinander zu kommunizieren imstande sind.

„Kindeswohl“, Deutsches Schauspielhaus, 18.9. (Premiere), 21., 22., 28., 30.9. und weitere Termine; schauspielhaus.de


 SZENE HAMBURG Stadtmagazin, September 2021. Das Magazin ist seit dem 28. August 2021 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!

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