Streitgespräch: Wird Obdachlosen im Corona-Winter ausreichend geholfen?

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Woher erfahren Sie von den Realitäten der Menschen?“: Julien Thiele (Foto: Caritas)

Wird Obdachlosen in Hamburg im Corona-Winter 2020/21 ausreichend geholfen? Ein Streitgespräch zwischen Julien Thiele von der Straßenvisite des Caritasverbands für das Erzbistum Hamburg e. V. und Iftikhar Malik, SPD, Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft und im Sozialausschuss

Moderation: Erik Brandt-Höge

SZENE HAMBURG: Iftikhar Malik, wir sind mitten im Winter, es ist kalt, und Corona gibt es auch noch. Wie haben Sie und Ihre Kollegen Kollegen sich im Sozialausschuss auf diese ja seit Monaten vorhersehbare Situation vorbereitet?

Iftikhar Malik: Das bewährte Hamburger Winternotprogramm wurde aufgestockt. Es gibt eine neue Tagesaufenthaltsstätte, auch eine neue Unterkunft. Wir haben zudem darauf gedrängt, dass die Belegungen entsprechend der Corona-Hygiene- und -Schutzbedingungen umgesetzt werden.

Deutungshoheit über Lebensrealitäten

Wobei das aktuelle Winternotprogramm nur 1.400 Plätze für Obdachlose bietet. Es gibt aber mehr als 2.000 Obdachlose in der Stadt, die Dunkelziffer noch gar nicht mitgerechnet.

Julien Thiele: Richtig. Das Winternotprogramm deckt die aus der 2018 durchgeführten städtischen Obdachlosenstudie fast 2.000 gezählten Obdachlosen sowie die ungewisse Dunkelziffer nicht ab. Es widerspricht sich also, wenn das Motto der Stadt lautet, dass jeder Obdachlose in Hamburg ein Bett bekommen könne und niemand auf der Straße schlafen müsse.

Die Deutungshoheit über die Lebensrealitäten und Notlagen liegt einfach nicht mehr bei den Betroffenen, sondern wird immer mehr von gezielten Akzenten der Politik bestimmt. Uns berichten Obdachlose von Unterkünften und erzählen dabei von 8-Bett-Zimmern, in denen teilweise nur ein oder zwei Betten freibleiben.

Dabei wechseln die Bettnachbarn teils täglich und das individuelle Hygieneverhalten der fremden Personen kann nicht eingeschätzt werden. Die Personen haben zum Beispiel unterschiedliche Ver- ständnisse von der Notwendigkeit der regelmäßigen oder dauerhaften Lüftung über Nacht. Wir können wenig tun, da die Unterbringungen fast komplett in städtischer Hand liegen.

„Das würde ich gerne sofort zurückweisen“

Julien Thiele

Malik: Was die Kapazitäten angeht: Mir liegt die Erkenntnis vor, dass die 1.400 Schlafplätze unter Berücksichtigung der lockeren Belegung erfolgt sind. Weiterhin wurde berücksichtigt, dass nicht mehr als zwei Personen in einer Räumlichkeit untergekommen sind. Das ist die jüngste Aussage aus der Sozialbehörde.

Zudem seien die Kapazitäten nicht ausgeschöpft. Aktuell, heißt es, seien 30 Prozent der Plätze nicht belegt. Die Berichterstattung, die es jüngst gab, dass das Winternotprogramm eine Gefahr darstellen solle, ist eine gegenteilige Darstellung der tatsächlichen Situation, und das wirkt sich auch auf die Wahrnehmung der Betroffenen aus.

Thiele: Das würde ich gerne sofort zurückweisen. Eine Diskursverschiebung wie diese, bei der die Interessenvertretung der Betroffenen und damit die Freie Wohlfahrtspflege zum Gefahrenrisiko der Betroffenen ernannt wird, ist absurd.

Wir diskutieren seit mehreren Jahren mit der Behörde darüber, warum das Winternotprogramm für viele Menschen nicht annehmbar ist. Das Hilfesystem versucht, Lösungen zu finden und die Menschen zu motivieren, teils fast zu überreden, sich in dieses Winternotprogramm zu begeben, damit alle Kapazitäten genutzt werden. Ich will Ihnen, Herr Malik, gar nicht zu nahetreten. Ich habe mit Ihnen nur leider noch nie gesprochen und würde Sie gerne fragen: Woher erfahren Sie eigentlich von den Realitäten der Menschen? Von der Sozialbehörde? Und: Inwiefern stehen Sie mit dem Hilfesystem im Austausch?

Verbesserung des Winternotprogramms

Ich würde Sie gerne einladen, mit uns zusammen auch mal die Hilfen umzusetzen und mich auf der Straße zu begleiten. Die Behörde weiß schließlich, dass es eine fehlende Annahmebereitschaft des Winternotprogramms gibt und dass es dafür vielfältige Gründe gibt.

Es werden zudem seit mehreren Jahren Menschen aus dem Winternotprogramm verwiesen. Sie erhalten kein Bett, sondern nur einen Stuhl in der Wärmestube, die kürzer geöffnet ist und wo es keine Dusche, kaum Verpflegung und keine Sozialberatung gibt. Die Behörde möchte alle Menschen erreichen, bietet aber nicht allen die gleiche Hilfe und schafft dadurch ein Klassen-System mit herabgesetzten Standards für bestimmte Personenkreise. Wir wollen eine Verbesserung des Winternotprogramms beziehungsweise die Schaffung von vielfältigen de- zentralen Schutzräumen, damit wir die Menschen von der Straße bekommen.

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„Gut, dass Ziele klar formuliert werden“: Iftikhar Malik

Malik: Ich bin überzeugt davon, dass wir in dieser Sache sehr nah beieinander sind – und ich würde Ihr Angebot gerne annehmen. Bisher bin ich mit unterschiedlichen Organisationen in Kontakt, zum Beispiel mit den Bergedorfer Engeln. Ich habe auch bereits an Hilfs- und Verteilaktionen teilgenommen.

Noch einmal zum Winternotprogramm: Das soll ja nicht nur einen Schlafplatz, sondern auch eine begleitende Betreuung bieten – genau wie Sie es gerade beschrieben haben. Mir liegen derzeit keine Zahlen vor, wie viele Menschen abgelehnt und wie viele auf andere Einrichtungen verwiesen worden sind. Auch liegen mir keine Fakten darüber vor, wie die Hygienestandards sind. Was Sie gerade beschreiben, haben wird nicht in offiziellen Dokumenten vorliegen, was es uns erschwert, damit zu arbeiten. Genau um diese Fakten zu erfragen, habe ich kürzlich eine Anfrage an den Senat gestellt.

Thiele: Die Fakten gibt es zum Teil, zum anderen Teil fordern wir seit mehreren Jahren mehr Transparenz über diese Problematiken! Zum Beispiel wurde erfasst, wie viele Menschen monatlich in die Wärmestube verwiesen wurden und wie wenige diese tatsächlich nutzen möchten, ohne Betten und Co.

Eine Anfrage von Die Linke im Dezember 2020 ergab, dass zum Beispiel in der Männernotunterkunft Pik As am 1. Dezember 2020 eine Zimmerbelegung von vier Personen im Durchschnitt bestand. Damit ist die von der Sozialbehörde publizierte lockere Belegung von maximal zwei bis drei Personen widerlegt. Hier frage ich mich, ob es nicht wirklich höhere Belegungen gibt, wenn es sich um einen Durchschnitt handelt, und weil ich die Schilderungen der Betroffenen als die Wahrheit erachte.

Mehr Empathie

Malik: Diese Zahlen liegen mir nicht vor. Ich teile zum Teil Ihre Auffassung, dass wir aus dem politischen Betrieb diese Thematik mit ein bisschen mehr Empathie bearbeiten sollten und könnten. Wir sollten dabei auch den Lebensrealitäten und Befindlichkeiten der Betroffenen folgen und nicht parteipolitischen Logiken – da bin ich ganz bei Ihnen. Die qualitative Weiterentwicklung des Winternotprogramms ist stets der Gedanke dahinter.

Woran arbeiten Sie denn gerade in Sachen Weiterentwicklung des Programms?

Malik: Zum Beispiel an der Erreichbarkeit von weitläufigeren Bezirken wie Bergedorf. Der Bedarf dort ist registriert worden, und an dieser Stelle müssen wir schrauben. Auch um die Weiterentwicklung des Programms zu besprechen, wird es einen Sonder-Sozialausschuss geben, der in den kommenden Wochen stattfinden wird.

Es bestand ja bereits die Möglichkeit eines Runden Tischs aus unter anderem Sozialbehörde, Streetworkern, Polizei und Feuerwehr. Dafür gab es aber keine Mehrheit im Sozialausschuss. Warum nicht?

Malik: Weil es schon Gremien dieser Art gab und auch fortlaufend gibt. Die Begleit-AG zum Winternotprogramm ist beispielsweise erst am 18. Dezember, also kurz vor Weihnachten, zusammengekommen, um die Problemlage zu besprechen. Es wurde auch gerade erst im Rahmen einer Anfrage beantwortet, welche Austauschrunden zwischen professionellen und ehrenamtlichen Akteuren es gibt. Ein weiterer Runder Tisch hätte unserer Ansicht nach nur zu einer Zerfaserung in verschiedenen Gremien geführt.

Thiele: Ja, es stimmt, es gibt eine Vielzahl von Gremien in Hamburg – die sich aber nie explizit damit beschäftigen, einen Sozialen Notstand wie den jetzigen anzuerkennen. Seit Dezember letzten Jahres sind bis heute acht Personen verstorben. Seit Ende 2019 insgesamt 54 bis heute (15.1.; Anm. d. Red.).

Wir hadern nach wie vor damit, dass der Alltag der Obdachlosen nicht von der Lebensrealität bestimmt wird, sondern von politischen Entscheidungen, die angeblich alle Sorgen beseitigen sollen. Und natürlich haben nicht bloß wir daran zu knabbern, sondern vor allem die betroffenen Menschen. So sehr, dass sie teilweise daran zerfallen.

Es gibt übrigens auch ein Ordnungsrecht, das besagt: Jeden Tag muss erneut geprüft werden, ob Gefahr für Leib und Leben besteht und die individuelle Würde geschützt ist. Allerdings hat Hamburg sich an dem Instrument bedient, dieses Ordnungsrecht mit Sozialrecht zu verschränken – und damit Menschen von Überlebenshilfen teils auszuschließen. Fakt ist: Das gesamte Hilfesystem muss einmal komplett umgedreht werden. Nicht Menschen müssen sich beweisen in den Stufen des Hilfesystems, sondern es muss neuer Wohn- und Schutzraum für eben diese Menschen geschaffen werden, da Obdachlosigkeit kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem ist. Nur so erreichen wir das Ziel der EU, bis 2030 Obdachlosigkeit zu beenden.

Malik: Es ist gut, dass Ziele klar formuliert werden, aber natürlich auch sehr leicht aus Sicht des Europäischen Parlaments, wenn es diese nicht umsetzen muss. Die Umsetzung passiert ja in den Gemeinden, Städten und Kommunen. Es sind da also mehrere Ebenen im Spiel – und haben Aufholbedarf.

Hotels for Homeless

Noch einmal weg von langfristigen und zurück zu kurzfristigen Lösungen für diesen Winter. Eine Lösung bietet unter anderem Hotels for Homeless. Derzeit werden 120 Obdachlose in Hamburg in leerstehenden Hotelbetten untergebracht – bei mehr als 30.000 leerstehenden Betten insgesamt.

Thiele: Es gibt unterschiedliche Institutionen, die bei dieser Hilfe mitwirken. Die Diakonie, Caritas und Hinz&Kunzt können dies dank einer Großspende von Reemtsma anbieten. Zudem gibt es ein Kollektiv um den Verein StrassenBlues und weitere Vereine und Initiativen wie Leben im Abseits e. V. oder die Bergedorfer Engel, die eine Hotelunterbringung realisieren.

Die Vernetzung untereinander, vor allem zur Sicherstellung der Versorgung und Sozialberatung, funktioniert gut. Aber: Es ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, unsere Warteliste ist lang. Die Hotelunterbringung hat meines Wissens noch kein Mensch abgelehnt. Die meisten können es gar nicht glauben, dass es so etwas überhaupt gibt. Es geht ja auch nicht um einen Fernseher, um Catering oder einen tollen Teppich, sondern erst mal nur um die Möglichkeit, allein zu sein und die Tür hinter sich abschließen zu können.

Malik: Das Winternotprogramm verfolgt, wie schon gesagt, das Ziel, die Menschen mit einem umfassenden Beratungs- und Betreuungsangebot in das Regelhilfesystem zu bekommen. Es gab und gibt ja bereits Einzelunterbringungen, auch mit Hotelcharakter, insbesondere für Familien oder im Rahmen der sogenannten Geschwächten-Regelung, also für Betroffene mit psychischen und physischen Vorbelastungen. Auch weitere Einzelunterbringungen werden derzeit geprüft.

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 SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Februar 2021. Das Magazin ist seit dem 28. Januar 2021 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!

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