Januar
Silvester 22/23: Erster Jahreswechsel ohne Corona-Einschränkungen. Das lassen sich viele nicht zweimal sagen, allein an den Landungsbrücken versammeln sich bis zu 15.000 Feierlustige. Darunter wohltuend wenige Feierwütige. Polizei und Feuerwehr haben nicht so viel zu tun wie erwartet. Umso wütender sind die 250 Mitarbeiter von Gruner + Jahr, die bei einer „kämpferischen Mittagspause“ gegen den drohenden Ausverkauf demonstrieren. Transparente mit abgewandelten bekannten Verlagstiteln zeigen, was verloren geht. Allein schon eine Tragödie: Wenn man unfreiwillig plötzlich bei RTL arbeitet.
Februar
Die Volksinitiative gegen Gendern an Hamburgs Schulen und in der Verwaltung „hat das Potenzial zur größten deutschen Bürgerrechtsbewegung seit dem Fall der Mauer“. Meint ohne Scheu vor Trump’schem Superlativ Initiatorin Sabine Mertens. Anwalt Gerhard Strate sekundiert: „Linguistische Eingriffe mittels massiver Propaganda sind Kennzeichen totalitärer Systeme.“ Wie die von einem totalitären System namens Putin tyrannisierte Ukraine solche Vergleiche wohl findet? Am 24. Februar ist 1. Jahrestag des russischen Angriffs. Um 12 Uhr heißt es „Hamburg steht still“, um den Opfern des Krieges zu gedenken und Solidarität mit den Geflüchteten zu zeigen. Um 12:01 erklingt an vielen Orten die ukrainische Nationalhymne.
März
Hamburg unter Schock und Trauer. In einem Gemeindehaus der Zeugen Jehovas erschießt ein Amoktäter sieben Menschen und sich selbst. Der Hamburger war als Sportschütze legal Besitzer einer Waffe. Es entbrennt eine Diskussion um eine Verschärfung des Waffenrechts, die an Amerika erinnert. Bei einer Pause von der Wirklichkeit der Welt hilft ein Buch oder Musik. Oder beides. Die Band Die Sterne, Mitbegründer der Hamburger Schule, brachte deutsche Texte mit literarischer Qualität ins Spiel. Musik, die Herz, Hirn und Hintern bewegt. Die Doku „Du musst gar nix“ erzählt ihre 30-jährige Geschichte. König Charles hat das erste halbe Jahr im neuen Job überstanden und feiert das mit einem Hamburg-Trip.
April
Ein Fußballmonat, durchwachsen wie das Wetter: Am 8. April feiert St. Pauli mit 1:0 gegen den 1. FC Heidenheim den 10. Erfolg in Serie. Der letzte Zweitligist, der das geschafft hatte, war 1986/87 der Karlsruher SC. Zwei Wochen später kickt der HSV im Hamburger Derby St. Pauli mit einem 4:3 aus dem Aufstiegsrennen. In der City geht es sportlich weiter: Nach Schließung von Karstadt Sport 2020 prangt stolz „Jupiter“ auf dem hohen Gebäude: der Ort der „größten kreativwirtschaftlichen Zwischennutzung in Deutschland“, wie die verantwortliche Hamburger Kreativ-Gesellschaft vermeldet. Vernissagen, Workshops, Festivals, Partys – Innenstadt kann mehr als Shopping.
Mai
Die Großevents schlagen aus: Metallica spielt zwei Shows als Doppelpack im Volksparkstadion. Die größte Produktion in der 42-jährigen Bandgeschichte zeigt, warum die vier Herren um die 60 als einer der härtesten Live-Acts der Welt gelten. Ebenfalls nicht klein: das Digitalfestival OMR in den Messehallen mit über 72.000 Besuchern und Prominenz von Luisa Neubauer bis Serena Williams. Schon fast zu groß: der Hafengeburtstag mit 1,1 Millionen Besuchern. Garant für große Gefühle und Diskussionen: die Harley Days, die rund 50.000 Besucher anziehen. Ein Schelm, wer sich „Zahnwälte“ denkt. Großes Fragezeichen: Die Eröffnung des begrünten Flakbunkers an der Feldstraße verzögert sich weiter.
Juni
Der umstrittene Deal des Hamburger Hafens mit dem chinesischen Staatskonzern Cosco ist nach zwei Jahren Verhandlungen unter Dach und Fach. Präsident Xi Jinping freut sich über 24,99 Prozent des Terminals Tollerort. Zu 100 Prozent übernimmt Beyoncé das Volksparkstadion und zeigt 50.000 Fans, wo die Paillette hängt. Diverse Outfitwechsel, glitzernde Pferde, ein silberner Panzer – von allem zu viel. Aber in gut. Traurige Nachrichten für Hamburger Subkultur und Stadtleben: Die Musikerin, Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Aktivistin Patricia Wedler alias DJ Patex ist gestorben. Abschied von der Direktorin der „School of Zuversicht“, ihrem außergewöhnlichen Pop-Projekt.
Juli
John Neumeier, 84, feiert 50 Jahre als Direktor des Hamburg Balletts mit einer Gala in der ausverkauften Staatsoper. Der Jubilar führt persönlich durch die fünfstündige Show als Abschluss der Balletttage mit 22 Choreografien. Nicht nur nach Meinung Neumeiers jetzt schon Ballettgeschichte.
Weniger Begeisterung löst die „Letzte Generation“ aus, die am ersten Tag der Sommerferien ein Rollfeld auf dem Hamburger Flughafen lahmlegt. Die Forderungen der Klimaaktivisten sind nicht abgehoben: Einhaltung des Klimaabkommens von Paris, ein Tempolimit von 100 km/h und die Wiedereinführung des 9-Euro-Tickets.
August
Wieder mal Empörung über die Taskforce Drogen auf St. Pauli. Laut Betreiberkollektiv vom Golden Pudel Club wird ein Mitarbeiter aus rassistischen Motiven während des Dienstes verhaftet, das Lokal mit einem Aufgebot von circa 30 Beamten zeitweise abgeriegelt. Weder bei der Verhaftung noch bei der Wohnungsdurchsuchung werden Betäubungsmittel gefunden. Beim CSD 2023 gehen laut Veranstalter Hamburg Pride rund 250.000 Menschen für die Rechte von queeren Menschen auf die Straße. Gegen den Rechtsruck, gegen Diskriminierung, für Selbstbestimmung und Gleichbehandlung – die Forderungen der Demonstrierenden sind vielfältig. Und sollten 2023 eigentlich keine Forderungen mehr sein.
September
Die Filmfest startet durch mit 132 internationalen Produktionen, Siegerfilmen aus Venedig und Cannes und Besucherzahlen über Vor-Corona-Niveau. Festivalleiter Albert Wiederspiel verabschiedet sich nach 21 Jahren in den Ruhestand und hinterlässt seiner Nachfolgerin Malika Rabahallah einen der „schönsten Jobs der Welt“. Die Septembernächte sind rekordverdächtig heiß, was für das Filmfest gut, für die Welt schlecht ist. Warnung beim ExtremWetterKongress im Internationalen Maritimen Museum Hamburg: Der Pariser Klimavertrag ist gescheitert. Nicht mehr abwendbare massive Veränderungen auf der Erde stehen nun an
Oktober
Rund 700.000 Menschen besuchen das bundesweite Fest zum Tag der Deutschen Einheit in Hamburg. Beim zentralen Festakt in der Elbphilharmonie ruft man wie jedes Jahr zum Zusammenhalt auf. Ein Besuch der Länderpavillons in der Innenstadt macht klar: Kulinarisch ist die Einheit vollzogen. Ganz Deutschland liebt Bratwurst. Ob der französische Präsident Macron seit seinem Hamburg-Besuch Fischbrötchen liebt, weiß man nicht. Mit Gattin Brigitte und Olaf Scholz gibt es eines auf die Hand. Fotos beweisen: Vor dem Fischbrötchen sind alle Menschen gleich. Ob Arbeiter oder Präsident – kein Verzehr ohne dicke, runde Backen
November
Die jüdische Gemeinde Hamburg lädt ein zu den ersten Jüdischen Kulturtagen der Stadt. Mehr als 40 Veranstaltungen an 30 Orten machen über fünf Wochen das jüdische Leben in Hamburg sichtbar – mit Literatur, Konzerten, Tanz und Theater. Einen besseren Moment hätte es angesichts des durch Hamas-Terror ausgelösten Israel-Gaza-Kriegs und explodierenden Antisemitismus leider nicht geben können. Bedrückende Zeiten. Mit dem Leitsatz „‚Nie wieder‘ ist jetzt“ lädt die Stiftung Bornplatzsynagoge am 9. November zur Gedenkveranstaltung anlässlich des 85. Jahrestages der Reichspogromnacht.
Dezember
Weihnachten scheint auch dieses Jahr wieder vorverlegt worden zu sein. Vor den Feiertagen stehen stressige Einkäufe, nervige Festtagsvorbereitungen und Firmenfeiern mit peinlichen Suffausfällen. Dann aber kommt die Belohnung: die entspannte Zeit zwischen Jahren, in der man vielleicht mal die Jogginghose wechselt. Allerbestes 2024 allerseits! Mindestens!
Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 12/2023 erschienen.
Bearbeitet von: Felix Willeke.