Peter Tschentscher: „Die ersten zehn Sekunden sind vorbei“

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Peter Tschentscher im Gespräch mit Oberärztin Marylyn Addo (links), Klinikdirektorin Ania C. Muntau und Sven Peine, Chefarzt und Facharzt für Transfusionsmedizin (Foto: Senatskanzlei Hamburg)

Kurz nach der Bestätigung als Hamburgs Erster Bürgermeister muss Peter Tschentscher die Stadt durch eine Zeit schiffen, in der viele unterschiedliche – psychologische und existenzielle – Bedürfnisse gehört werden wollen. Ein Gespräch über die zwei Seiten der Krise und seine Hoffnung, wie die Stadt nach der Pandemie aussieht

Interview: Hedda Bültmann & Erik Brandt-Höge

SZENE HAMBURG: Peter Tschentscher, bezogen auf die wirtschaftliche Lage Hamburgs haben Sie die Corona-Krise kürzlich mit einem Luftanhalten verglichen: Die ersten zehn Sekunden würden noch recht leichtfallen, die nächsten zwanzig wären schon schwieriger. Welche Sekunde zählen Sie denn aktuell?

Peter Tschentscher: Die ersten zehn Sekunden sind vorbei. Es wird jetzt immer schwieriger, das alles durchzuhalten, auch im Hinblick auf die wirt­schaftlichen Folgen. Ein Unternehmen kann vielleicht einige Wochen ohne Umsatz überstehen. Aber je länger die Krise andauert, desto stärker steigt das Risiko, dass es zu Insolvenzen kommt und Arbeitsplätze verloren gehen.

Das Hilfspaket von Bund und Ländern soll dabei unterstützen, die­se Zeit zu überbrücken. Dazu gehören das Kurzarbeitergeld, das Unternehmen mit hohen Lohnkosten sofort entlastet, und zinslose Steuerstundungen. Über die Hamburger Corona-Soforthilfe können Selbstständige, kleine und mittlere Unternehmen Zuschüsse bis zu 30.000 Euro erhalten, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Wir wollen vermeiden, dass es in der Wirtschaft zu strukturellen Schäden kommt.

Eine Angst der Hamburger ist, ob wir ausreichend medizinisch versorgt werden können. Aktuell (Stand 20.4.) werden 220 Hamburger mit COVID-19 stationär behandelt, davon 75 intensivmedizinisch. Inwieweit sind die Hamburger Krankenhäuser ausgelastet?

Derzeit gibt es ausreichend Behandlungskapazitäten. Die genannten Zahlen beziehen sich auf ganz Hamburg. Wir haben 1,8 Millionen Einwohner, rund 12.500 Krankenhaus­ betten und über 700 Intensivplätze. Das Coronavirus führt bei den meisten Infizierten zu keiner oder nur zu einer leichten Erkrankung.

Aber es gibt eben auch Personen, bei denen das Risiko einer schweren Erkrankung höher ist, vor allem ältere Menschen oder Patienten mit Vorerkrankungen. Die Maßnahmen, die wir treffen, sollen die Ausbreitung des Virus so ver­langsamen, dass nicht zu viele Men­schen gleichzeitig schwer erkranken und unser Gesundheitssystem mit ihrer Behandlung dann überfordert ist. Deswegen erhöhen wir die Zahl der Intensivbetten unserer Krankenhäuser. Wir wollen eine Lage wie in Italien verhindern, wo selbst schwerkranke Patienten nicht mehr behandelt wer­ den konnten.

Konkret heißt das, es gibt in Hamburg noch ausreichend Krankenhausbetten?

Ja. Die Krankenhäuser verschieben derzeit planbare Eingriffe, wenn es aus ärztlicher Sicht möglich ist. Also solche Eingriffe und Behandlungen, die nicht dringlich sind und auch in den nächsten Monaten nicht zu einem Notfall werden. Damit schonen wir das Gesundheitssystem, Personal und Schutzausrüstung wie Gesichtsmasken, die wir bei einem stärkeren Anstieg von COVID-­19­-Patienten noch benötigen.

„Jeder erlebt diese Zeit anders und ist auf seine eigene Art betroffen“

Peter Tschentscher

Existenzsorgen bleiben, und sind bei einigen bereits auf die emotionale Ebene gerutscht. Es gibt Ohnmacht, Wut, Trauer, Hoffnungslosigkeit, aber natürlich auch viel Mitgefühl. Welche Gefühle herrschen denn bei Ihnen aktuell vor?

Ich bin konzentriert. Es gibt mehr zu tun und zu entscheiden als sonst. Jeder erlebt diese Zeit anders und ist auf seine eigene Art betroffen. Wir haben zum Beispiel viele Beschäftigte im Gesundheitswesen und im Lebensmitteleinzelhandel, die jetzt sehr viel mehr arbeiten. Auf der anderen Seite haben wir Leute, die gerne arbeiten würden und es nicht dürfen, zum Beispiel Restaurant-­ und Clubinhaber. Einige sitzen zu Hause und wissen noch nicht, wie es weitergehen soll.

Jede Lage ist schwierig und hat seine psycholo­gischen Besonderheiten. Ich verstehe, dass einige ungeduldig sind und fra­gen, ob diese harten Einschränkungen wirklich nötig sind. Wir müssen aber vorsichtig bleiben und dürfen die Ein­schränkungen nur sehr vorsichtig lo­ckern, um den Erfolg unserer Strategie nicht zu riskieren. Letztlich kommen wir am besten durch diese schweren Wochen und Monate, indem wir auf guten Zusammenhalt und gegenseitiges Verständnis setzen.

Was genau bedeutet denn „durchkommen“? Wie sieht die Stadt danach aus?

Ich hoffe, dass wir in der gleichen Art und Weise in Hamburg weiterleben können wie vorher. Die Krise überstehen bedeutet, dass wir die sozialen und wirtschaftlichen Folgen begrenzen und strukturelle Schäden verhindern. Wir versuchen, diese Phase kurz zu halten und die Maßnahmen so zu gestalten, dass man sie durchhalten kann. Deswe­gen haben wir keine absolute Ausgangssperre wie in anderen Ländern. Alle sollen die Möglichkeit haben, sich an der frischen Luft zu bewegen – mit dem nötigen Abstand zu anderen. Wir bie­ten wirtschaftliche Unterstützung und Hilfen über telefonische Hotlines und psychologische Beratung.

Um Verständnis zu erwirken, ist es unerlässlich, die Menschen zu informieren. Es gab in den letzten Wochen aber auch vereinzelt Schelte für eine gewisse Form der Berichterstattung. Wie empfinden Sie diese von den Hamburger Medien?

Ich sehe nicht, was an der Hamburger Berichterstattung zu kritisieren ist. Es wird angemessen über die Ereignisse und Entscheidungen berichtet, die uns in Hamburg und ganz Deutschland betreffen. Information und Transparenz sind wichtig, damit die Einschränkungen akzeptiert und eingehalten werden. Wir können die Ausbreitung des Virus nur in den Griff bekommen, wenn sich alle an die Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum halten.

Dort, wo Maßnahmen nicht sinnvoll sind, ist Kritik auch berechtigt – wenn zum Beispiel Fußgänger oder Radfahrer von Polizeikontrollen an den Landes­grenzen zurückgeschickt werden. Das sind Maßnahmen, die nicht abgespro­chen waren und die jetzt auch nicht fortgeführt werden.

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Wie ist denn gerade die Stimmung zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein?

Ich habe mit Ministerpräsident Da­niel Günther vereinbart, dass Schles­wig-­Holstein auf unnötige und unverhältnismäßige Maßnahmen dieser Art verzichtet. Wir sind uns einig, dass es für Beschränkungen unserer Freiheit immer wichtige Gründe geben muss.

Überregionale touristische Reisen sol­len nicht stattfinden, weil es dadurch zu neuen Infektionsketten und einer ver­ stärkten Ausbreitung des Virus kommen kann. Naherholung, Spaziergänge oder Radtouren in der Nähe des Wohnortes sind aber weiterhin gestattet. Mein Wunsch ist, dass nach dieser Krise keine Verstimmungen zwischen den Bun­desländern zurückbleiben und wir unser partnerschaftliches Miteinander in der Metropolregion fortführen.

Was gerade guttut, ist die große Hilfsbereitschaft, die überall in der Stadt zu spüren ist, von „Danke“-Plakaten auf Balkonen über Briefe von Kindern an Seniorenresidenzen bis zu Gastro-Unternehmen, die Obdachlose mit Essen versorgen. Wann hätten Sie zuletzt gerne einen oder mehrere Hamburger in den Arm genommen, um selbst einmal danke zu sagen, durften es aber natürlich nicht?

Ich erlebe an vielen Stellen großen Einsatz und Hilfsbereitschaft. Neulich war ich in einem Hamburger Gesundheitsamt, um zu sehen, wie dort in der Corona­-Krise gearbeitet wird. Da wa­ren Beschäftigte, die eigentlich jetzt in Rente gegangen wären, das aber ver­schoben haben, um ihre Erfahrung und Arbeitskraft noch einzubringen. Viele Mitarbeiter haben sich aus anderen Dienststellen in das Gesundheitsamt versetzen lassen, weil dort jetzt viel zu tun ist.

Zugleich haben sich Medizin­studenten gemeldet, die mit ihren fort­geschrittenen medizinischen Kenntnis­sen gut unterstützen können. Das sind alles Leute, die nicht nur sagen, man müsste helfen, sondern die dann auch wirklich dabei sind. Das zeigt den großen Zusammenhalt in der Stadt.

Führt dieser Effekt dazu, dass die Stadt nach der Krise stärker sein wird als vorher?

Ich denke schon. Krisen sind auch immer eine Chance, man kann aus ihnen lernen. Wir werden uns in bestimmten Punkten auf jeden Fall besser vorbereiten auf Epidemien und Notfälle dieser Art. Wenn sich Menschen in einer Krise gegenseitig helfen, stärkt das den Zusammenhalt. Bürgerliches Engagement und Solidarität gab es in Hamburg schon immer, sie werden aber durch die Krise noch einmal gestärkt. Jetzt geht es erst mal darum, die Krise zu überstehen. Danach werden wir zu­ rückschauen auf das, was gut lief und was wir noch verbessern müssen.

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Und wie könnte man in Zukunft stärker mit einer Krise wie dieser umgehen?

Wir hatten Pandemie­- und Notfallpläne, aber die wurden ohne praktische Erfahrung gemacht. Man konnte nicht alles vorhersehen, was uns jetzt Pro­bleme macht, denn eine so umfassende Krise gab es bisher noch nicht. Selbst die Sturmflut 1962 ist nicht vergleichbar. Das war ein räumlich und zeitlich sehr begrenztes Ereignis. Im Vergleich dazu haben wir heute mehrere Krisen gleich­zeitig: in der Wirtschaft, in der Kultur, im Bildungssystem.

Das gesamte öffentliche und private Leben ist betroffen. Dazu kommt, dass es sich um eine in­ternationale Krise handelt. Der Bedarf an Medizinprodukten und Schutzklei­dung ist weltweit sprunghaft angestiegen und die gewohnten Lieferketten sind unterbrochen. Das ist derzeit eines unserer größten praktischen Probleme. In Zukunft müssen wir dafür sorgen, dass wir kritische Produkte auf Vorrat haben und eine Produktion im eigenen Land möglich ist.

Was fehlt denn akut am meisten?

Derzeit sind es vor allem medizini­sche Schutzmasken, die in den Kran­kenhäusern und Pflegeeinrichtungen gebraucht werden. Wir versuchen auf verschiedenen Wegen, größere Bestände zu beschaffen, bei Herstellern in Deutschland sowie international. Auch der Bund hat zugesagt, die Länder dabei zu unterstützen.

Wenn es denn soweit ist, dass diese Krise als überstanden gilt: Worauf freuen Sie sich für diese Zeit am meisten?

Darauf, dass wir uns wieder frei be­wegen und begegnen können. Die Le­bensqualität in Hamburg besteht gerade in der Vielfalt der Begegnungen, in den Restaurants, Cafés und Clubs, in Thea­tern und Kinos, auf den vielen Veranstaltungen, die bei uns normalerweise jeden Tag stattfinden.


 SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Mai 2020. Das Magazin ist seit dem 30. April 2020 im Handel und  auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich! 

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